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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
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und hielten sich jetzt in der Nähe der Gruppe auf. Auch ihnen blieb nichts anderes
übrig, als zu warten. Warten auf Munitionsnachschub, warten auf neue Befehle. Sie vertrieben sich die Zeit mit Schlafen, mit Rauchen und mit dem Reinigen ihrer Gewehre. Manchmal spielten zwei von ihnen mit den Kindern der Flüchtlinge und Schmuggler, die in immer größerer Zahl aus den Bergen auftauchten und zu ihnen stießen. Einmal machten sie Jagd auf einen Fuchs und die restliche Zeit über stritten sie über den Fortgang des Bürgerkriegs. Es waren die schmutzigsten Männer, die Hesmat je gesehen hatte. Die Haare hingen ihnen verdreckt über die Schultern und sie stanken erbärmlich. Ihre Hände sahen aus wie schmutzige Raubtierklauen, die sich nach allem ausstreckten, was ihnen zu nahe kam.
    Schließlich kamen weitere Schmuggler. Sie blieben, um auf den Lkw zu warten. Tagelang hatte Hesmat niemanden in den Bergen gesehen. Jetzt tauchten immer mehr Schmuggler, Mudschaheddin und Vertriebene auf. Nach vier Tagen waren es über einhundert, die in den Zelten und einer nahen Höhle warteten. Die Flüchtlinge wie Hesmat waren froh, durch sie ein Gefühl der Sicherheit zu haben.
    Gerüchte machten die Runde. Plötzlich sollten es drei oder vier Lkws sein, die bald kommen würden. Je mehr Heimatlose sich sammelten, desto mehr Lkws wurden es. Sie würden auch ewig auf nichts warten, dachte Hesmat. Er glaubte nicht mehr an den Lkw und nach einer Woche wurden selbst die ersten Schmuggler unsicher. Schon nach drei Tagen war manchen Flüchtlingen das Essen ausgegangen. Die Jagdversuche der Männer blieben meist erfolglos. Sie schlichen sich laut fluchend über die Hügel und vertrieben damit jedes Lebewesen.
    »Die Tiere lachen über sie«, sagte die Frau und schüttelte den Kopf. »Sie sind sogar zu dumm zum Jagen, wie sollen sie einen Krieg gewinnen?«
    Die Schmuggler begannen, alles zu verkaufen, was genießbar
war. Der Preis war unglaublich hoch und eine Schande für die angebliche Gastfreundschaft der Afghanen. Brot war ohnehin alles, was sich die Menschen in diesem Land noch leisten konnten. Nach ein paar Tagen wollten die Schmuggler schon zehn Dollar für einen Laib. Doch bevor die Menschen verhungerten, kauften sie um jeden Preis, und mit jeder Stunde stieg der Preis weiter. Sie würden alle verhungern, wenn sie nicht etwas unternahmen.
    »Ihr könntet ja euer Geld fressen!«, warf die Frau den Schmugglern an den Kopf.
    Schließlich trieb die Verzweiflung die ersten Männer und Frauen weiter nach Norden. Sie hatten zu lange auf einen Lkw gewartet, der nie kommen würde, und sie hatten ihr letztes Geld für Brot ausgegeben, das sie schon längst in Hodscha-Bahaudin essen könnten. Es kamen keine Lkws.
    »Ihr könnt nicht so einfach losmarschieren«, sagten die Mudschaheddin. »Dort unten ist der Feind. Ihr werdet ihnen in die Arme laufen.«
    »Sie werden uns nichts tun«, entgegneten sie ihnen. »Wir sind Familien, die nichts verbrochen haben. Wir wollen nur in den Norden.«
    Der Mudschahed schüttelte den Kopf. »Dann wartet zumindest auf Wind. Wenn der Wind den Sand aufwirbelt, seid ihr wenigstens etwas geschützt. Es gibt dort unten auf der Ebene sonst nichts, wo ihr euch verstecken könntet. Ihr seid wie auf dem Präsentierteller. Aber wenn ihr nicht hören wollt, dann geht und sterbt.« Er drehte sich um.
    »Wir sterben auch hier«, sagte eine der Frauen und beschimpfte den Kämpfer. »Die Schmuggler lassen uns verhungern und rauben uns das letzte Geld! Ihr sitzt nur daneben und seht zu, während sie euch mit Brot bestechen. Ihr seid um nichts besser als sie!«

    Schließlich siegte der Hunger und so zogen die ersten im Schutz des Morgengrauens los. Hesmat wartete. Die Schmerzen in seinem Knie waren besser geworden und die Blasen an den Füßen abgeheilt, trotzdem wartete er mit einer anderen Gruppe noch ein paar Stunden.
    »Wir wollen zuerst beten und schauen, was passiert«, sagten sie.
    Gemeinsam sahen sie der anderen Gruppe nach, die langsam hinunter zur Ebene abstieg. Es passierte nichts und vier Stunden später brachen auch sie auf. Als sich die Dämmerung ankündigte, hatten sie nach einem langen und gefährlichen Abstieg ins Tal die Ebene erreicht, auf die die erste Gruppe schon hinausgezogen war.
    Dann sahen sie die Explosion, ein helles Aufleuchten am Horizont. Es war wie ein leuchtender Pinselstrich, den jemand in den Abendhimmel malte. Ein zweiter Pinselstrich folgte. Dann erst hörten sie die Explosion, Schüsse
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