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Herz des Winters (German Edition)

Herz des Winters (German Edition)

Titel: Herz des Winters (German Edition)
Autoren: Madeleine Puljic
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Gemetzel überlebte, wurde in die Minen und Sümpfe gesteckt, als wertlose Sklaven, die jeden Tag erneut ums Überleben kämpfen mussten. Wer zu schwach zum Arbeiten war, erlebte den Abend nicht. Für Daena waren es die Minen gewesen. Eine endlose Zeit in Dunkelheit und Enge, die trotzdem eine gewisse Sicherheit darstellten, waren die Minenschächte doch zumindest frei von den geflügelten Echsen.
    Gerade wurde eine weinende Frau aus dem Tunnel gezogen, als sie die Schreie hörten. Keine menschlichen Stimmen, sondern das pfeifende Fauchen, das die Sprache der Morochai darstellte – und sie kamen aus dem Tunnel.
    Ohne zu zögern griffen die Männer nach ihren Spitzhacken. Innerhalb weniger Sekunden hatten sie Felsen und Erdreich rund um den Eingang in Bewegung gesetzt und die Öffnung war verschwunden. Die Sicherheit der bereits geretteten Menschen ging vor, die Echsen durften dieses Ende des Tunnels nicht erreichen.
    Mit sanfter Gewalt zogen sie die letzte Geflohene von dem Erdrutsch fort, in dem diese mit bloßen Fingern grub und dabei unablässig vor sich hinwimmerte, ihre Kinder wären doch nur ein paar Schritte hinter ihr gewesen.
    Daena schaffte es gerade noch, zum nächsten Baum zu torkeln und sich daran festzuklammern, bevor sie sich erbrach. Der Mann hatte Recht gehabt. Das Blut dieser Stadt, dieser Kinder klebte an ihren eigenen Händen.
    Eine leise Stimme drang aus ihrer Tasche und stimmte ein sanftes Klagelied in Klaavu an, der alten Sprache der Gelehrten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Berekh seit dem Verlassen der Tunnel kein Wort mehr gesprochen hatte.
    ***
    Knapp drei Dutzend Männer, Frauen und Kinder hatten die Flucht aus der Stadt geschafft, die zuvor fast zweitausend Menschen beherbergt hatte. Einer davon, ein junger Mann mit stark blutenden Krallenspuren an Arm und Brust, würde die kommende Nacht nicht überleben. Sie trugen ihn und vier weitere, die zu schwer verletzt waren, um auf eigenen Beinen zu gehen, auf notdürftig improvisierten Tragen. So kamen sie nur langsam voran, dennoch benötigten sie nicht einmal eine Stunde, um das nächste Dorf zu erreichen. Was bedeutete, dass es für Daenas Empfinden eindeutig zu nah an der Stadt lag, die sich mittlerweile durch einen erschreckend großen Feuerschein vom dämmrigen Himmel abzeichnete.
    Morochai streunten selten nach einem Angriff durch die Umgebung, sondern plünderten und zerstörten, was ihrem Einfall standgehalten hatte, und schafften die Sklaven fort. Nichts destotrotz fühlte sie sich alles andere als sicher. Damit war sie jedoch nicht die Einzige. In dem improvisierten Schlafsaal, den die Dorfbewohner in der Tempelhalle eingerichtet hatten, herrschten Angst und Schmerz. Diese Menschen hatten alles verloren, jeder hatte Familienangehörige und Freunde in der Stadt zurückgelassen. Jeder außer Daena.
    Ironischerweise fühlte sie sich dadurch ausgeschlossen und noch schuldiger als ohnehin bereits. Sie hatte kein Recht, inmitten all der Trauernden zu sein und das gleiche Mitgefühl zu empfangen wie sie. Sie konnte allerdings auch schlecht aufstehen und einfach davonspazieren.
    Also kauerte sie sich auf ihrer Pritsche zusammen und zog ihren Beutel an die Brust. In dem leisen Schluchzen und Wimmern, das den Raum füllte, würde eine geflüsterte Unterhaltung niemandem auffallen. Selbst wenn, würden sie ihr scheinbares Selbstgespräch wohl für ein Gebet halten.
    „Berekh, bist du wach?“
    Ein dumpfes, orangefarbenes Glühen drang durch den Stoff – die Farbe, die seine Augen seit dem Klagelied angenommen hatten.
    „Sag mir ehrlich, was du denkst. Hätten wir etwas tun können?“
    Etliche quälende Sekunden vergingen, bevor eine Antwort kam. „Nichts, was etwas geändert hätte. Hättest du eine Warnung gerufen, hätten einige den Tunnel früher betreten. Und auch die Echsen hätten ihn früher gefunden. Andere Menschen wären jetzt hier, aber ich denke nicht, dass ihre Anzahl eine andere gewesen wäre.“
    „Also hätten wir nicht doch kämpfen sollen?“
    Wieder war da dieses Schweigen, das so gar nicht zu dem Schädel passte, den sie kannte. Als er endlich sprach, klang eine derartige Resignation in seiner Stimme, dass sich etwas in Daenas Brust schmerzhaft zusammenzog. „Nein, du hattest Recht. Ich bin nicht mehr, was ich einmal war. Nichts ist mehr, was es einmal war.“
    Unwillkürlich zog Daena ihre Tasche und damit Berekh in eine tröstende Umarmung, von der sie nicht sagen konnte, ob sie für ihn oder sie selbst gedacht
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