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Herrin des Blutes - Thriller

Herrin des Blutes - Thriller

Titel: Herrin des Blutes - Thriller
Autoren: Bryan Smith
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zum Atmen eingeräumt hatte.
    Sie stieß erneut ein Heulen aus, das einer Totenklage glich, wollte die Hände ans Gesicht heben – und spürte stattdessen, wie sich Armstümpfe in ihre Wangen bohrten.
    Ein Moment absoluter Stille schloss sich an. In diesem Moment hielt sie den Atem an und wagte es nicht, Luft zu holen. Verleugnete die Realität. Ihr Geist fühlte sich vollkommen leer und ausgehöhlt an. Dann atmete sie aus und legte behutsam die Stümpfe an ihre Wangen. Sie spürte einen schwachen Phantomschmerz, aber er löste sich schon kurz darauf in Luft auf, als ihr Verstand den schlichten körperlichen Beweis für ihre Verstümmelung akzeptierte.
    Ihre Hände waren wieder verschwunden. Sie erlebte einen entsetzlich langen Moment verzweifelter Orientierungslosigkeit, als stünde sie am Rand eines tiefen Abgrunds. Einen Schritt weiter und sie würde in ewige Finsternis stürzen. Sie hatte Mühe, zu begreifen, was geschehen war. Sie spürte keinen Schmerz. Kein pulsierendes Brennen einer Infektion. Dies waren keine frischen Wunden. Es waren vielmehr im Laufe der Zeit verheilte Wunden. Ihre vermeintliche Wiederherstellung entpuppte sich als Illusion – ein geschickter Streich, den der Meister ihr gespielt hatte, indem er sich als Azaroth ausgab und auf ihren unausweichlichen Untergang lauerte. Als sich ihre Herrschaft hier im Haus dem Ende näherte, war bereits ein entsprechender Verdacht in ihr aufgestiegen.
    Sie war wieder ganz die Alte.
    In jeder Hinsicht.
    Die Realität hatte ihren Körper eingeholt. Er war versehrt, aber real. Unberührt von Magie. Tatsächlich spürte sie nicht den winzigsten Anflug von magischer Energie, die durch ihren Körper strömte. Die Fähigkeiten und Talente, die sie besessen hatte, waren verschwunden, und sie rechnete nicht damit, sie jemals zurückzuerlangen. Auch der Bann, mit dem Dream sie bedacht hatte, schien verflogen zu sein. Er wurde nicht länger benötigt.
    Sie war wieder ganz die Alte.
    In jeder Hinsicht.
    Mit einem defekten Körper.
    Dafür mit einem voll funktionsfähigen Gewissen.
    Diese Erkenntnis vertrieb schließlich doch die Gedanken an ihren Bruder, ohne dass sie deshalb eine Erleichterung verspürt hätte. Stattdessen wurde ihr Geist von einer endlosen Serie von Bildern überflutet, die ihr die eigenen Gräueltaten der letzten Monate eindringlich vor Augen führten. Eine Endlosschleife von Perversionen und Brutalität, in der sie die Hauptrolle spielte. Mit Ursula als Nebendarstellerin, stets an ihrer Seite. Sie beide fügten Schmerzen zu und töteten Menschen, weil es ihnen Vergnügen bereitete. Weil sie sich an den Schreien und Qualen ihrer Opfer weideten. Hatte sie wirklich geglaubt, dass sie Ursula liebte? Es gelang ihr nicht länger, diese Gefühle nachzuvollziehen. Auch sie waren nichts als Illusion gewesen.
    Giselle presste die Innenseite ihrer Unterarme auf das Gesicht und weinte noch ein bisschen. Ihre Brust hob und senkte sich heftig unter der Wucht der Emotionen, die sie so lange Zeit künstlich unterdrückt hatte.
    Sie musste an Eddie, ihr Blutopfer für Azaroth, denken.
    Den süßen, treuherzigen Eddie.
    Und an den Ausdruck völliger Verwirrung auf seinem Gesicht in den letzten Sekunden vor dem Tod.
    Die Tränen versiegten erst, als sie ein sanftes Vibrieren in ihren Knochen spürte. Einen Moment lang saß sie völlig entspannt da und wartete. Das Vibrieren setzte erneut ein. Giselle atmete ein paarmal tief durch und merkte, dass ein Gefühl völliger Ruhe von ihr Besitz ergriff.
    Sie rutschte in eine Ecke des schaukelnden Käfigs und wartete auf die Ankunft jener, die gekommen waren, um sie zu holen. Sie fragte sich, was sie ihr antun würden. Sie ging davon aus, dass man sie foltern würde. Und sie letzten Endes tötete. Sie würde entsetzliche Schmerzen erleiden. Aber selbst diese Vorstellung konnte den inneren Frieden, der sich in ihr ausbreitete, nicht zerstören. Sie kam zu dem Schluss, dass sie verdient hatte, was immer man ihr antun würde. Sie dachte an die Drachentätowierung. Wenn sie sich selbst im Spiegel betrachtete, konnte sie den Drachen dann immer noch sehen? Sie glaubte nicht daran.
    Sie war wieder ganz die Alte.
    In jeder Hinsicht.
    Sie verschloss die Augen vor der Dunkelheit und flüchtete zurück in eine Zeit, in der sie heldenhafte Taten vollbracht hatte. Bittersüße Erinnerungen, aber nicht weniger wahrhaftig als die Erinnerungen an die von ihr verübten Schreckenstaten. Erneut traten Tränen in ihre Augen, aber diesmal
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