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Herrin der Falken - 3

Herrin der Falken - 3

Titel: Herrin der Falken - 3
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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Der Falke schlug wieder mit den Flügeln. Romilly trat näher,
besänftigende Worte murmelnd. Und nach kurzer Zeit wurden
die peitschenden Flügel ruhig. Konnte es sein, daß der Falke
sich an sie erinnerte? Vielleicht hatte die Unterbrechung ihre Chancen nicht völlig verdorben. Sie ließ die Hand in den Handschuh schlüpfen, schnitt ein frisches Stück Fleisch von dem Kadaver ab und hielt es dem Vogel hin. Aber wieder meinte sie, der Abscheu vor dem Aasgeruch sei stärker als
vorher.
Fühlte sie also, was der Falke fühlte? Eine Sekunde lang begegnete Romillys Blick in einer betäubenden Welle von Übelkeit
den großen gelbgrünen Augen des Vogels. Es kam ihr vor, als
balanciere sie über einen schmalen Grat, auf dem sie nicht
genug Platz zum Stehen hatte, unbekanntes Leder schnürte
ihre Beine ein. Und es war eine fremde und hassenswerte
Präsenz da, die sie zwingen wollte, einen scheußlichen schmutzigen Klumpen hinunterzuschlingen, der absolut ungenießbar
war… Für einen Sekundenbruchteil war Romilly wieder ein
kleines Kind, das noch nicht sprechen konnte, gefangen in
ihrem hohen Stühlchen, und ihre Kinderfrau löffelte irgendein
widerwärtiges scheußliches Zeug in ihre Kehle, und sie konnte
nur um sich schlagen und schreien…
Der Magen drehte sich ihr um. Zitternd trat sie zurück und ließ
das Aas zu Boden fallen. So sah der Falke sie? Sie hätte ihn
freilassen sollen, sie konnte nicht mit einem solchen Haß leben… hassen uns alle Tiere, die wir beherrschen, auf diese
Weise? Dann ist jemand, der Pferde und Hunde abrichtet,
schlechter als ein Kinderquäler… und wer einen Falken vom
Himmel holt, um ihn an einen Block zu ketten, ist nicht besser als
ein Mann, der Frauen Gewalt antut… Aber diesmal war der
flatternde, kämpfende Falke von der Stange abgekommen. Romilly trat zu ihm, richtete geduldig den Block so her, daß der Falke
einen sicheren Platz zum Stehen finden konnte, bis er seine
Hände wiederfand und das Gleichgewicht zurückgewann.
Dann stand sie stumm, versuchte, den Falken nicht einmal
durch ihr Atmen zu beunruhigen, während der Kampf in ihrem
Gehirn weiterging. Sie spürte, wie in dem gefesselten Falken
Angst und Wut miteinander um die Vorherrschaft stritten.
Romilly, um die eigene Ruhe ringend, füllte ihren Geis t mit
der Erinnerung an das letzte Mal, als sie mit ihrem Lieblingsfalken gejagt hatte. Sie stieg mit ihm auf, schlug die Beute, und
deutlich wie damals wurde das Gefühl, das in ihren Begriffen
Stolz und Freude war, als der Falke von ihrem Handschuh kröpfte… Sie wußte, diese Freude an etwas Vollbrachtem, dieses Gefühl einer plötzlichen Einheit mit dem Vogel wäre noch stärker gewesen, hätte sie den Falken selbst abgetragen. Und sie hatte mit ihrer Lieblingshündin das Entzücken geteilt, unausgesprochen, unmöglich in Worte zu fassen, aber eine tiefe und schwellende Freude, als sie ihr ihre Welpen brachte. Das Vergnügen des Tiers an der Liebkosung war etwas wie die Liebe, die sie für ihren eigenen Vater empfand, ihre Freude und ihr Stolz bei seinem seltenen Lob. Ja, sie empfand den Schmerz und die Furcht eines jungen Pferdes, das sich gegen Zaum und Sattel wehrte, doch sie nahm ebenso an der Verbindung und dem Vertrauen zwischen Pferd und Reiter teil, die sie als echte Liebe erkannte. Deshalb liebte sie es, halsbrecherisch zu reiten, weil sie wußte, es konnte ihr nichts geschehen, solange das Pferd sie trug, und sie ließ es laufen, wie es wollte, und ihnen beiden gemeinsam war die Ekstase des Dahinfliegens… Nein, dachte sie, es ist keine Vergewaltigung, ein Tier auszubilden und zu trainieren, ebensowenig wie es ein Unrecht war, als die Kinderfrau mich lehrte, Brei zu essen. Anfangs fand ich ihn scheußlich und wollte nichts anderes als Milch. Doch wenn man mich weiter mit Milch ernährt hätte, nachdem mir Zähne gewachsen waren, wäre ich krank und schwach geworden. Ich brauchte feste Nahrung, um stark zu werden. Ich mußte lernen, das zu essen, was gut für mich war, und Kleider zu tragen, obwohl ich damals bestimmt lieber wie ein Wickelkind in Decken eingehüllt worden wäre. Später lernte ich, mein Fleisch mit Messer und Gabel zu schneiden, statt es in die Finger zu nehmen und wie ein Tier mit den Zähnen daran zu nagen. Und
heute bin ich froh, all das zu können.
Als das Falkenweibchen wieder flatterte, zog sich Romilly nicht
vor der Angst zurück, sondern teilte sie. Halblaut flüsterte sie:
»Vertrau mir, Schöne, du wirst wieder frei fliegen. Wir
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