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Haus der Erinnerungen

Haus der Erinnerungen

Titel: Haus der Erinnerungen
Autoren: wood
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ich erinnere mich, daß ich wie in Trance die Treppe hinunterstieg und ins Wohnzimmer zurückkehrte, erfüllt einzig von der Euphorie unserer Liebe. Aufruhr und Unruhe, die mich während all dieser Tage im Haus meiner Großmutter umgetrieben hatten, waren verflogen, alle Fragen und Geheimnisse, die mich gequält hatten, waren gelöst. Ich befand mich stattdessen in einem wunderbaren Zustand, da ich wußte, daß ich diese eine Nacht mit dem einzigen Mann verbracht hatte, der mir wahrhaft etwas bedeutete.
    Ich vermute, daß ich mich dann auf dem Sofa niedergelegt habe, denn ich scheine geschlafen zu haben, tief und fest wie jemand, dessen Geist von aller Unruhe befreit ist und dessen Körper gewaltige Höhen erklommen hat. Während dieser Stunden des Schlafs hatte ich meinen letzten bemerkenswerten Traum. Victor kam zu mir und blieb bei mir am Sofa stehen, nicht der Mann aus Fleisch und Blut, der er oben im Schlafzimmer für mich gewesen war, eher ein geisterhaftes Wesen, eine Erscheinung. Lächelnd sah er zu mir herunter, und in seinen Augen war Verwunderung. Ich erwiderte seinen Blick ohne Furcht und ohne Überraschung, nur voll Wärme und Dankbarkeit dafür, daß es mir vergönnt worden war, diesen Mann zu kennen. Und in meinem Traum sagte die Erscheinung Victors zu mir: »Wer bist du?«
    Ich antwortete: »Deine Urenkelin.« Das schien ihn zu überraschen. »Wie kann das sein?«
    Ich erwiderte: »Wie kann es sein, daß du jetzt mit mir sprichst. Träumeich?«
    Aber er sagte nur: »Wie kannst du meine Urenkelin sein, wenn ich niemals geheiratet habe und auch keine Kinder hatte?« Ich lachte ein wenig und sagte dann: »Aus deiner einen Nacht mit Jennifer ist ein Sohn hervorgegangen. Sie taufte ihn Robert. Und als er erwachsen wurde, bekam er eine Tochter, meine Mutter. So kommt es, daß du mein Urgroßvater bist.«
    Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf, und während ich ihn noch anblickte, hatte ich den Eindruck, daß in seinen Augen etwas aufleuchtete, als hätte sich dort ein Funke der Hoffnung entzündet, der die Schleier von Bitterkeit und Enttäuschung durchdrang. Sein Gesicht schien mir ruhiger zu werden, entspannter und jünger. Er sah wieder so aus wie damals, ehe die Erfahrungen an den Krankenhäusern Londons ihn hatten altern lassen. »Ich hatte einen Sohn«, murmelte er. »Was ist aus dir geworden?« fragte ich ihn.
    »Ich ging nach dieser Nacht nach Frankreich. Ich versprach Jennifer, daß ich zu ihr zurückkommen würde. Ich ging nach Frankreich, um ein neues Leben aufzubauen und mich Jennifers würdig zu erweisen, wenn ich sie bat, meine Frau zu werden.«
    »Und was geschah?«
    »Ich starb ein Jahr später auf einem Schiff bei der Überfahrt über den Kanal. Sie wußte nicht, daß ich auf der Rückreise war. Ich hatte ihr nicht geschrieben, weil ich sie überraschen wollte. Sie muß ihr Leben lang geglaubt haben, ich hätte sie vergessen.«
    »Sie starb nicht lange nach dir, Victor. Wahrscheinlich vor Kummer. «
    »Und ich erfuhr nie, daß sie ein Kind hatte.«
    »Dein Kind«, sagte ich.
    »Aber warum bist du hier? Warum sind wir beide hier? Dort, wo ich war, war es grau und häßlich...«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht um die Dinge geradezurücken.«
    »Wie hieß mein Sohn?«
    »Robert.«
    »Robert«, wiederholte er. »Aber er liegt jetzt im Sterben.«
    »Wir müssen alle sterben«, sagte Victor.
    »Sag mir was. Sag mir, wie das mit der Zeit ist. Wie ist es geschehen? Bist du irgendwo noch am Leben...« Aber mein Urgroßvater hörte mir nicht zu. Er drehte den Kopf und blickte über seine Schulter. Ich sah, wie helles Sonnenlicht sein Gesicht überflutete und ein strahlendes Lächeln es von innen erleuchtete. »Sie ist hier«, murmelte er. »Wir sind wohl alle hier.«

    Aber er hörte mich nicht mehr. Victor Townsend wandte sich für immer von mir ab und verschwand in den Dunstschleiern, die das Sofa umgaben. Das letzte Wort, das ich von ihm hörte, war, »Jennifer...«

    17

    Als ich zu mir kam und die Augen aufschlug, sah ich ein Wohnzimmer, das ich nie zuvor gesehen hatte. Und in meinem verwirrten Zustand fragte ich mich, wo bin ich jetzt?
    Aber als ich den Kopf zur Seite drehte und das Sonnenlicht sah, das zum Fenster herein-strömte, wußte ich es.
    »Es hat aufgehört zu regnen«, rief meine Großmutter aus der Küche.
    Ich setzte mich auf. Der Duft von bruzzelndem Schinken und frisch geröstetem Brot wehte mir in die Nase. Ich hatte einen Bärenhunger.
    »Was ist heute für ein Tag,
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