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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel
Autoren: Tobias O. Meißner
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auf die Matratze ausgerichtet hatte, dann ließ er das schnallenfreie Gürtelende los.
    Abwärts durch die heiß ihm entgegenwallende Luft, abwärts mit verwischender Geschwindigkeit. Der Gürtel entfaltet sich, streckt sich wie eine lebende Schlange beim Zubeißen. Surrt heißlaufend übers Kabel. Lukes Flug nicht ganz senkrecht. Der Aufprall. Luke federt durch, fängt so viel Gewicht wie möglich in allen verfügbaren Gelenken auf. Auf dem linken Rand der Matratze gelandet, reißt es ihn noch mal hoch, und er purzelt daneben in den Staub.
    Keine erwähnenswerten Schmerzen. Geklappt wie ein Uhrwerk. In der sich wieder setzenden Staubwolke steht Luke auf und grinst. Sauber! Saubere Action, Mann. Jetzt hatte er endlich was, das er Greg erzählen konnte, das sich auch wirklich lohnte.
    Er gönnte sich noch eine Cig, bis die Schenkelmuskeln aufhörten zu zittern, und sah dem Rauch nach, der zum besiegt und schlaff dahängenden Kabel hochspielte und dann dort unsichtbar wurde.
     
    Zu Hause machte er sich über das Band her. Es war staubig und tatsächlich stellenweise von Vögeln oder Wespen angepickt. Eigentlich hätte es eine gründliche Wäsche nötig gehabt, aber das war natürlich nicht drin. Also pustete er es so gut wie möglich ab, darauf achtend, es nur an den Rändern zu berühren, um so viel wie möglich von dem, was drauf war, zu retten. Mit jeder verstreichenden Minute wurde seine Gewissheit größer, dass der Inhalt des Bands ihn nicht enttäuschen würde.
    Da er keine Leerkassette mehr hatte, opferte er halt eines von seinen über zwei Jahre alten Radiohits-Mitschnitt-Tapes, das er sowieso entweder überspielen oder nie mehr hören würde. Er spulte das Tape bis zur Mitte, zog dann eine Schlaufe heraus, deren Länge so etwa auf dreißig Meter hinauslaufen musste, kappte diese dreißig Meter mit zwei Schnitten, warf den Müll hinter sich und klebte das erbeutete Band mit Klarsichtklebstreifen sorgfältig ein. Dann zwirbelte er mit einem Bleistift im Zahnloch die schmutzige Schlaufe in den Kassettenkörper ein. Lukes Handflächen waren feuchter vor Aufregung als während der ganzen Kletteraktion am Stromkabel, als er das Tape in das Tapedeck einlegte und es ein ziemliches Stück zurückspulte.
    Play.
    Zuerst – erwartungsgemäß – Radiocharts-Gülle. Ein Song von REM , ein bisschen Alanis Morrissette, das ganze Band war voll mit so was Nettem. Vor den Tattoos hatte Luke halt auf so was gestanden. Kurz vorm Ende von Alanis dann der abrupte Bruch. Scharren und Schaben im Tapedeck, der Tonkopf muss sich durch Dreck kämpfen wie mit einer Machete durch Dickicht. Merkwürdige Geräusche sind zu hören. Eine lachende Frau? Eine weinende Frau? Schwer zu sagen ... nein ... keine Frau. Ein Pluckern und Wabern, dann zappeln von überallher wie winzige Spermien Geräuschfragmente auf einen Mittelpunkt zu, wo sie sich treffen und auswärtsdetonieren zu einem Lärm, der klingt, als würden’s zwei Flugzeugträger miteinander treiben. Luke erkennt erst jetzt, dass da jemand elektrische Gitarre spielt. Später kommt noch eine mal wispernde, mal klagende, mal aber auch mit zorniger Bestimmtheit durchdringende Stimme dazu, und Luke begreift, dass da ein einzelner Mann eine einzige Gitarre spielt, das Ganze live, einmal ist spärlicher Applaus zu hören, die Aufnahme brummt und ist schlecht ausgesteuert unter all dem kratzigen Sand und den eiernden Verformungen des Sonnenlichts. Nach etwas über zehn Minuten endet der Spuk und geht schockierend übergangslos in einen Song von Weezer über, der auch Gitarrenlärm bietet, aber anders, gereinigter.
    Luke wendet die Kassette. Auf der Rückseite geht das unheimliche Bootleg weiter. Luke erfährt nicht, wer da Musik macht und warum, und wie man diese Art von Musik nennen könnte. Sein Stück Ton hat kein Ende und keinen Anfang. Er hat es wie eine Frucht vom verbotenen elektrischen Baum gepflückt. Luke sitzt in der Ecke seines kleinen Zimmers, die Arme um die Knie geschlungen, und starrt mit großen, aber nichts sehenden Augen auf das Tapedeck, während der Anbeginn und der Kosmos aus der Wüste nach ihm greifen.
     
    In drei Wochen wird Luke fünfzehn Jahre alt. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich ein neues Fahrrad zu wünschen, eines, das holperfest und stabil genug ist, um den verdammten Weg zur Schule zu überstehen.
    Er hat es sich jetzt anders überlegt. Irgendwo in der Stadt gibt es bestimmt E-Gitarren zu kaufen, die nicht viel teurer sind als ein
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