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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder
Autoren: Oggi Enderlein
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Winter wurden Schlittschuh gelaufen und
... stundenweite Ausflüge über die überschwemmten Wiesen gemacht. Am schönen Sonntagnachmittag fanden sich wohl ein paar hundert Schlittschuhläufer zusammen, es wurden Fangspiele gespielt, mit allerlei Künsten des Vor- und Rückwärtslaufens.
    Und mit Eis und Wasser wurde »gespielt«:
Einen unwiderstehlichen Reiz übte auf die Schulknaben auch ein eben auftauender Graben; nachdem das Eis von den Rändern abgeschmolzen war, wurde es mit dem Beil durch Querschnitte in halbmeterlange Schollen geteilt; nun galt es, über sie so rasch hinzulaufen, daß, während der hintere Fuß die letzte Scholle unter Wasser drückte, der vordere schon auf der nächsten sich stütze, so daß man eben trockenen Fußes noch davonkam; natürlich, bis das Verhängnis einen doch ereilte, indem eine Scholle zerbrach oder man danebentrat. Das gab dann wieder eine häusliche Krise.
(Rutschky, S.   388)
     
    Auch Stadtkinder erobern ihre Umgebung und »spielen« mit ihr. So gut es eben geht, in einer Welt, die scheinbar einzig und allein den Erwachsenen gehört. Das ist in modernen Städten am Ende unseres Jahrhunderts im Prinzip nicht anders als im Berlin von 1875:
     
    Eins unserer liebsten Spiele war das Reifenspiel, und es war Ziel löblichen Ehrgeizes, einmal seinen Reifen von unserem Hause bis zur nahen Sophienstraße hin und zurück zu treiben, ohne daß er von einem der vielen Fußgänger umgestoßen wurde. Am schönsten konnte man diesen Sport in den Hallen der Nationalgalerie treiben. Leider hatten die Erbauer offenbar die Bedeutung des Reifenspiels noch nicht genügend erfaßt, da
sie rücksichtslos genug die schönen Asphaltbahnen durch störende Stufen unterbrochen hatten, die aus den Säulengängen zu den Fahrwegen hinabführten   ...
(Damaschke, in Rutschky, S.   393)
     
    »Moderne Kinder« spielen nicht mehr mit Reifen. Bei dem heutigen Verkehr kämen sie damit auch nicht weit. Dafür flitzen sie mit ihren Skateboards und Inlineskates über Gehwege und Treppen und schlängeln sich haarscharf an den Fußgängern vorbei. Und die Erwachsenen sind empört, genauso wie es frühere Generationen in vergleichbaren Situationen auch waren. Ein Beispiel aus dem Hamburg von 1741 (!):
     
    In der Stadt regierten   ... die Winkeljungen in schier unleidlicher Weise. Jedes Spiel wurde Unart   ... Ihren Tonnenbändern
(den Reifen)
mußte man respektvoll ausweichen, sonst bekam man sie zwischen die Beine, stolperte und schlug elend zu Boden, unter Hohngeschrei der Buben. Wie manche achtbare Dame fühlte entsetzt solchen Reif gegen ihren Rücken kollern   ... Der Kreisel, sowohl der kleine als der Brummkreisel, schien nur dazu erfunden zu sein, um den Menschen das Gehen auf den breiten Steinen (dem damaligen Trottoir) und in den Promenaden zu verbittern, wo ohnedies alle zehn Schritte die bekannten neun Marmellöcher den Boden unsicher machten   ... Nicht die Söhne der ärmsten Klassen waren es, die sich der so eben aus Ostindien hier eingeführten Schwärmer und Raketen bedienten, um einen heillosen Unfug abendlich auf den Straßen zu veranstalten   ...
(Beneke, zit. nach Rutschky, S.   361)
     
    Gerade die Dinge, die den Erwachsenen »gehören« und für die Kinder offiziell keinen Zugang haben, fordern in besonderem Maß dazu heraus, sie zu erobern, zu entdecken und für sich zunutzen: fremde Gärten, leere Häuser, Baustellen, Ruinen (nach dem Zweiten Weltkrieg ganz besonders beliebt!), Scheunen, Lager, Schuppen, Industrieanlagen, selbst Kanalisation und Müllkippen. Dazu alle Dinge, die »nichts für Kinder« sind: außer Feuerwerk besonders Zigaretten und Alkohol, neuerdings auch »verbotene« Videos, Internetangebote und Fernsehsendungen. Alles muss erkundet und erprobt und so kennen gelernt werden.
    Die Erwachsenen sehen ihre Aufgabe natürlich   – und zu Recht   – darin, Kinder vor Gefahren zu schützen, ihnen Respekt vor fremdem Eigentum und Achtung vor dem andern beizubringen und sie ganz allgemein dort in die Schranken zu weisen, wo sie wirklich zu weit gehen. Kein Zweifel: Ohne Grenzziehungen der Erwachsenen geht es tatsächlich nicht, auch wenn die Kinder immer wieder und gezielt gegen deren Anweisungen verstoßen. Aber das gehört zu dem für diese Altersstufe so typischen »Wie-weit-kann-ich-gehen-Spiel«, bei dem Kinder sehr viel über die Welt und ihre Regeln und noch mehr über die darin regierenden Erwachsenen lernen. Denn die Erwachsenen müssen, genauso wie
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