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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Autoren: Leigh Bardugo
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den Beinen zu bleiben.
    »Sankta Alina«, sagte der Asket, »endlich seid Ihr bei uns.«
    Dann fiel er in seiner zerschlissenen braunen Kutte auf die Knie. Er küsste meine Hände und den Saum meines Gewandes. Er wandte sich an die unzähligen Gläubigen, die sich in den Tiefen der Grotte versammelt hatten, und als er sprach, schien die Luft zu knistern. »Wir werden uns erheben und ein neues Rawka erschaffen«, dröhnte er. »Ein freies Land ohne Tyrannen und Zaren! Wir werden der Erde entströmen und wie eine Woge der Gerechten die Schatten vertreiben!«
    Unter uns sangen die Pilger im Chor: Sankta Alina .
    In das Gestein waren Wohnhöhlen gehauen, Kammern, von Silberadern durchzogen und in einem Elfenbeinton schimmernd. Maljen half mir in meine Unterkunft, gab mir einige Happen süßen Bohnenbrei zu essen und holte eine Karaffe mit frischem Wasser für die Waschschüssel. Als ich mich in einem Spiegel erblickte, der in das Gestein eingelassen war, schrie ich leise auf. Die schwere Karaffe fiel zu Boden und zerbrach. Ich war totenbleich, meine Haut spannte sich über hervortretenden Knochen. Meine Augen lagen tief in den wunden Höhlen und meine Haare waren so weiß wie der erste Schnee des Winters.
    Ich drückte die Fingerspitzen gegen das Glas. Maljen suchte den Blick meines Spiegelbilds.
    »Ich hätte dich warnen sollen«, sagte er.
    »Ich sehe aus wie ein Ungeheuer.«
    »Eher wie ein Khitka .«
    »Waldgeister fressen Kinder.«
    »Nur, wenn sie hungrig sind«, sagte er.
    Ich versuchte zu lächeln, weil ich diesen kurzen Moment der Nähe bewahren wollte. Dann wurde mir bewusst, dass er großen Abstand zu mir hielt und die Arme wie eine Wache in Habachtstellung in die Seiten gedrückt hatte. Er missdeutete den Glanz der Tränen, die mir in die Augen traten.
    »Du wirst dich bald erholen«, sagte er. »Sobald du deine Macht wieder anwendest.«
    »Natürlich«, erwiderte ich, und als ich mich vom Spiegel abwandte, schmerzten meine Knochen wieder vor Erschöpfung.
    Ich zögerte, dann warf ich den Männern, die der Asket vor meiner Kammer postiert hatte, einen vielsagenden Blick zu. Maljen trat näher. Ich hätte am liebsten meine Wange an seine Brust geschmiegt, mich von ihm halten lassen, dem steten und menschlichen Schlag seines Herzens gelauscht. Aber das tat ich nicht.
    Stattdessen flüsterte ich, fast ohne dabei die Lippen zu bewegen: »Ich habe es versucht. Aber irgendetwas stimmt nicht.«
    Er runzelte die Stirn. »Du kannst deine Macht nicht mehr aufrufen?«, fragte er zögernd. Klang er ängstlich? Besorgt? Hoffnungsvoll? Schwer zu sagen. Ich konnte nur spüren, dass er auf der Hut war.
    »Ich bin noch zu schwach. Wir sind zu tief unter der Erde. Ach, ich weiß es nicht.«
    Ich betrachtete sein Gesicht und erinnerte mich an unseren Streit im Birkenwäldchen, als er mich gefragt hatte, ob ich darauf verzichten könnte, eine Grischa zu sein. Niemals , hatte ich geantwortet. Niemals.
    Ich wurde von Hoffnungslosigkeit erfüllt, dicht und schwarz, schwer wie die Last der Erde über unseren Köpfen. Ich wollte es eigentlich nicht sagen, wollte der Angst, die mich während der vielen Werst, die wir im Dunkeln zurückgelegt hatten, geplagt hatte, keine Stimme geben, aber ich zwang mich, es auszusprechen: »Das Licht gehorcht mir nicht mehr, Maljen. Meine Macht ist ausgelöscht.«

Das Mädchen träumte wieder von Schiffen, nur flogen sie jetzt. Sie hatten Flügel aus weißem Segeltuch und am Steuer stand ein Fuchs mit klugen Augen. Manchmal verwandelte sich der Fuchs in einen Prinzen, der sie küsste und ihr eine Krone mit roten Edelsteinen anbot. Manchmal war er ein roter Höllenhund, der mit Schaum vor dem Maul nach ihr schnappte, während sie vor ihm davonrannte.
    Ebenso oft träumte sie von dem Feuervogel. Mit flammenden Schwingen umfing er sie, hielt sie, während sie lichterloh brannte.
    Sie wusste schon, dass sie wieder versagt hatte, bevor ihr zu Ohren kam, dass der Dunkle noch lebte. Er war von seinen Grischa gerettet worden und herrschte nun auf einem von Schatten umwölkten Thron über Rawka, umringt von den Horden seiner Ungeheuer. Sie wusste nicht, ob er durch das, was sie in der Kapelle getan hatte, geschwächt worden war. Er war uralt, und im Gegensatz zu ihr war ihm seine Macht in Fleisch und Blut übergegangen.
    Seine Opritschki stürmten Klöster und Kirchen, rissen auf der Suche nach der Sonnenkriegerin Fliesen auf und gruben Fußböden um. Man setzte Belohnungen aus und drohte, und wieder wurde
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