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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Autoren: Leigh Bardugo
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hatte es in meiner Angst jedoch verdrängt. Dieses Mal wehrte ich mich nicht dagegen. Ich ließ Furcht und Scham und Schuldgefühle fahren. In meinem Inneren herrschte Finsternis. Er hatte sie dort eingepflanzt und ich konnte sie nicht länger leugnen. Die Volkra und die Nitschewo’ja  – sie alle waren meine Ungeheuer. Und auch er war mein Ungeheuer.
    »Meine Macht ist dein«, wiederholte ich. Er schloss mich fester in die Arme. »Und deine ist mein«, flüsterte ich, den Mund dicht vor seinen Lippen.
    Mein. Dieses Wort hallte in mir nach. Hallte in uns beiden nach.
    Die Schattenwesen surrten, die Schattenwesen waberten.
    Ich erinnerte mich an die Gefühle, die mich damals auf der verschneiten Lichtung erfüllt hatten, als der Dunkle mir den Reif um den Hals gelegt und die Kontrolle über meine Macht an sich gerissen hatte.
    Er zuckte zurück. »Was tust du?«
    Nun begriff ich, warum er die Meeresgeißel um keinen Preis selbst hatte töten, nicht auch noch diese zweite Verbindung zwischen uns hatte herstellen wollen: Er fürchtete sich.
    Mein.
    Ich nutzte kurz entschlossen die Verbindung, die Morozows Halsreif zwischen uns herstellte, und bemächtigte mich der Kräfte des Dunklen.
    Dunkelheit entquoll ihm, entströmte seinen Handflächen wie schwarze Tinte, wabernd und wölkend, und formte sich zur Gestalt eines Nitschewo’ja samt Klauen, Kopf und Schwingen. Das erste meiner Gräuel.
    Der Dunkle wollte sich entwinden, aber ich packte ihn fester und rief seine Macht auf, beschwor seine Dunkelheit, so wie er einst mein Licht beschworen hatte.
    Ein weiteres Geschöpf brach aus ihm heraus, dann noch eines. Der Dunkle schrie auf, als sie sich ihm entrissen. Ich spürte ihn auch, den Krampf, der mein Herz erfasste, denn als Tribut für die Erschaffung eines jeden Schattenwesens verlor ich einen Teil meiner selbst.
    »Aufhören«, stieß der Dunkle heiser hervor.
    Die Nitschewo’ja umschwirrten uns immer rasanter, waren beunruhigt, schnarrten und surrten. Ringsumher wuchs meine Armee, als ich ein Schattenwesen nach dem anderen ins Dasein riss.
    Wir stöhnten beide auf, der Dunkle und ich. Wir sanken gegeneinander, doch ich ließ nicht ab.
    »Du wirst uns beide töten!«, schrie er.
    »Ja«, sagte ich.
    Der Dunkle knickte ein. Auch ich sackte auf die Knie.
    Dies waren nicht die Kleinen Künste. Dies war Zauberei, eine Urmacht aus grauer Vorzeit, als sich im Innersten der Welt die allerersten Schöpfungskräfte geregt hatten. Dies war grenzenlos, dies war das Grauen.
    Die Dunkelheit brummte und zirpte wie Tausende hungriger Heuschrecken, Käfer und Fliegen, die ihre Beine aneinanderrieben, ihre Flügel surren ließen. Die Nitschewo’ja begannen zu wabern und sich neu zu bilden, sie schwirrten wie im Wahnsinn, angetrieben von seinem rasenden Zorn und meiner rauschhaften Begeisterung.
    Noch ein Ungeheuer. Und noch eines. Blut schoss aus der Nase des Dunklen. Die Kapelle schien zu wanken und mir wurde bewusst, dass ich von Krämpfen geschüttelt wurde. Mit jedem Ungeheuer, das sich ins Dasein riss, starb ich ein wenig mehr.
    Nur noch kurz , dachte ich. Nur noch ein paar. Nur noch so lange, bis ich Gewissheit habe, dass er vor meinem eigenen Tod ins Jenseits geht.
    »Alina!«, hörte ich Maljen wie aus weiter Ferne. Er zerrte an mir, versuchte mich wegzureißen.
    »Nein!«, rief ich. »Ich muss dies zu Ende bringen.«
    »Alina!«
    Maljen ergriff mein Handgelenk und ein Schock durchzuckte mich. Durch blutgetrübten, schattenverhangenen Dunst erhaschte ich wie durch eine goldene Tür den Blick auf etwas Wunderschönes.
    Er riss mich vom Dunklen fort, aber ich rief meinen Kindern noch wie im Rausch zu: Legt sie in Schutt und Asche .
    Der Dunkle brach zusammen. Die Ungeheuer stiegen rings um ihn als sausende, schwarze Säule auf und krachten dann gegen die Kapellenwände, erschütterten das Gebäude in den Grundfesten.
    Maljen rannte mit mir auf den Armen zur Apsis. Die Nitschewo’ja warfen sich gegen die Wände. Gipsstücke krachten zu Boden. Die blaue Kuppel, deren Stützpfeiler langsam nachgaben, begann zu schwanken.
    Maljen stürmte am Altar vorbei und verschwand mit einem Satz im Geheimgang. Ich roch plötzlich feuchte Erde und Moder und den süßen Weihrauchduft der Kapelle. Maljen rannte mit dem Schrecken, den ich entfesselt hatte, um die Wette.
    Weit hinter uns ertönte ein lautes Krachen, als die Kapelle einstürzte. Die Schockwellen holten uns im Geheimgang ein und eine Wolke aus Dreck und Trümmerstückchen fegte
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