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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben
Autoren: Florian Weber
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dieses Lied anstimmte, es müsste »Der Herr, unser Geleit« gewesen sein, also just in diesem Moment sorgte Aki dafür, dass durch eine raffiniert angebrachte Seiltechnik der Vorhang zurückwich und dort der ehemalige Kirchenorganist Bogavac mit starren, verkrampften Gliedmaßen und schon etwas blau im Gesicht, die Trauergemeinde begleitete, die ihm sein letztes Geleit sang. Oft kam das nicht vor, dass ein Toter seinen eigenen Trauermarsch spielte, wenngleich stumm und still, und so waren reihenweise Ohnmachtsanfälle, Schreiattacken und multiple Bekreuzigungen begleitende Vorkommnisse dieser Beerdigung.
    »Teifelswerk!«
    »Ein Geist!«
    »Ein Wunder!«
    »Da Bogavac!«
    Der Sohn des Verstorbenen bangte wieder um seinen sicher geglaubten Arbeitsplatz und fing bitterlich zu flennen an.
    »Ja wird der denn nia hin?«, fragten seine Kartenkumpanen, und der Rosenwirt schrie gar »Freibier!« in die Runde, ohne sich seines Ausrufes bewusst zu sein.
    Ein Heidendurcheinander war es, das Aki und Ignaz prächtig amüsierte. Erst nachdem der Dorfarzt den tatsächlichen Tod feststellte und der Sarg geöffnet wurde, in dem Steine anstatt eine Leiche lagen, war klar – die Buchmannbuben waren wieder am Werk gewesen, die Mistbuben, die teuflischen.
    »Buchmannwerk!«, schrien einige Aufgebrachte.
    Da jagte sie das ganze Dorf, und versteckt hatten sie sich zwei Tage lang, ehe sie vom Vater doch die verdiente Tracht Prügel erhalten hatten. Hunger und Durst trieben sie zurück ins traute Heim. Der Vater stand den Ledergürtel schwingend in der Türe. Weh hatte es getan. Sehr. Aber ein geglückter Streich, wie sie sich noch lange bestätigten.
    Aki, sein Bruder. Und er. Gesehen hat er ihn schon länger nicht mehr.
    Seinen Bruder Aki.

    Das Kellermärchen
    Frieden kehrte ein. Er bettete seinen Körper in einer Ecke des Kellers auf eine schmierige Decke. Das flackernde Licht spielte tänzelnde Schattenspiele an die Wand. Von irgendwoher drang doch ein kühler Luftzug durch den feuchten Keller und ließ die Flamme im Glas mit der Zunge schnalzen, als ob sie Pferde antreiben wolle, die wie Schatten über die grauen Steppen der Kellerwände sprangen.
    Luxus war das. Annähernd. Ignaz Buchmann griff sich den Kartoffelsack, holte Bleistift und das noch viele freie Seiten bietende Buch hervor.
    Bäuchlings warf er sich auf die kratzige Decke, die ihm in diesem Moment wie ein Bärenfell vorkam. Das Notizbuch, gedruckt aus strapazierfähigem Hadernpapier, lag vor der Glaslampe, die wie ein offener Kamin Licht und Wärme verbreitete, und flehte um eine Geschichte aus der Feder Ignaz Buchmanns, der Schreiber und Verarbeiter von Erlebtem in Märchenform. In seinem Gehirn wurden die Strapazen der Flucht von einer immens auflodernden Phantasie verbannt. Schreibdrang und Erzählwille schickten Befehle zu Herz und Hand und verfrachteten sein Gemüt in einen literarischen Ruhezustand. Im Hier und Nun sollten Geschichten entstehen.
    »Ich lebe noch«, flüsterte er müde gegen die kahlen Wände, die anerkennend, so schien es ihm, applaudierten.
    »Ich lebe, also schreibe ich.« Ignaz hielt inne – eine dramatische Pause machend. »Ich schreibe, also bin ich.«
    Die Kellerwände johlten und schrien vor Begeisterung.
    Ignaz nickte, während seine Hand schwungvoll den Stift übers Papier führte.
    Von einem, der nicht mehr laufen wollte
    VERWUNDERLICH, ABER DOCH
    _________________________________
    Es war einmal ein Bote, der Briefe, Schriften und Pakete lieferte. Von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Die Arbeit war mühsam und gewaltig, doch führte er sie stets mit bestem Gewissen und rasend schnell aus. Da Briefe aber immer eiliger den Empfänger erreichen, Pakete schnellstmöglich zum Adressaten gelangen mussten, war selbst das nicht schnell genug. Mit geschundenen Füßen und gebeuteltem Körper stand er oft da und schlief im Stehen ein, so müde war er nach getaner Arbeit. Da beschloss er eines Tages, nicht mehr laufen zu wollen. Er würde nur noch gemächlich gehen. Immerzu zwar, aber ohne Eile.
    Just zu dieser Zeit überzog ein dunkler Unfriede das Land. Kriegerische Vorkommnisse verbreiteten Unruhe, Angst und Schrecken. Sie waren geboren durch eine sich hastig entwickelnde Technisierung. Länder und deren Herrscher waren erpicht, sich schnell und schneller zu entwickeln. Maschinen schluckten Maschinen. Die Technik überschlug sich, und da jedes Land die schnellsten Erfindungen und Entwicklungen vorweisen wollte, der Nachweis
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