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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Autoren: Karl Schlögel
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und Geldwechsels, des Gefälles, aus dem man Nutzen zu ziehen sucht. Und in den letzten zehn Jahren sind es ganz bestimmt auch die Check-in-Schalter der Billigfluglinien. Die Billigfluglinien haben die Karte Europas verändert, zuerst wirklich, dann auch nach und nach in den Köpfen. Eine Sammlung der Karten aus den Reklamebroschüren der Fluggesellschaften, zu denen wir manchmal in unserer Langeweile während des Fluges greifen, ergäbe eine Transformation des Verkehrsraums Europas im letzten Jahrzehnt und damit auch eine Transformation unserer Vorstellung von Europa. Wir lesen in den Billigpreis-Lobpreisungen von ganz neuen Destinationen: Gdańsk, Rzeszów, Sibiu, Lwiw, Donezk, Timişoara, Katowice. Historische Landschaften wie Galizien oder Pommern werden an die Wirtschaftsregion Rhein-Main angeschlossen. Man pendelt zwischen Bergamo und Lemberg, Kiew und Dnepropetrowsk. Man kann an den Check-in-Schaltern des Flughafens von Krakau ablesen, wann die Arbeitswoche in Manchester und Sheffield beginnt oder endet, wann die Sommerferien zu Ende sind. An der Zufahrt zur Fähre zwischen Trelleborg und Saßnitz stauen sich vor Weihnachten Tausende von Autos, die alle nur ein Ziel haben: nach Hause, nach Kielce, Wrocław, Białystok, Lublin. Eine große Wanderung hat eingesetzt, die am einen Ende dazu geführt hat, dass es keine Handwerker, keine Elektriker, keine Zimmerleute und Klempner mehr gibt und dass sich am anderen Ende neue Städte und Shtetl bilden – in den englischen Midlands, in Irland, in Frankreich. Es entstehen Pendelfamilien, Verhältnisse, in denen Kinder von ihren Großeltern aufgezogen werden. Kaum eine Ortschaft, die nicht jemanden in der Fremde hätte: in Alicante, in Mailand, in London oder in Göteborg. Von dort kommt das Geld zurück, das die neuen Häuser wachsen lässt am Rande der Dörfer in Zentralpolen. So entstehen neue Ortsteile mit dem Geld aus der Fremde – aus Italien, Deutschland, Spanien, Skandinavien. Diesen Bewegungen haftet nichts Exotisches mehr an. Sie sind zur Gewohnheit geworden. Die Reisenden kennen sich aus. Sie bewegen sich in London-Victoria und Hamburg-Hauptbahnhof wie zu Hause. Sie haben eine Ökonomie des Gepäcks und des Reisens entwickelt, wie sie nur in einer Welt entsteht, für die die Mobilität zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Aber auch die Rückkehrbewegung hat ihre Folgen. So trifft man allenthalben, noch in der entferntesten Provinz im südlichen Polen, junge Leute, die perfekt Englisch sprechen, und in Moldawien kann es einem passieren, dass man in Schwyzerdütsch oder Portugiesisch angesprochen wird.
    Es besteht kein Grund, sich über den neuen Billigflugtourismus lustig zu machen, auch wenn uns die Zusammenrottungen deutscher oder skandinavischer Freunde des Alkohols auf der Piazza Navona oder in der Altstadt von Riga und Tallinn auf die Nerven gehen. Auch wenn sie keine historische Bildung haben, lernen sie, dass es in Europa etwas zu sehen und zu erleben gibt, was für die meisten neu und für einige gewiss auch interessant ist. Das ist überhaupt die Art, wie man sich eine Welt neu aneignet – jedenfalls eher als durch die Lektüre von Lehrbüchern.
Subtile Transfers
    Mit dem Fall der Grenze sind auch alte Bildwelten zusammengestürzt und fügen sich neue zusammen. Gerissene Kommunikationen werden wieder aufgenommen, Begegnungen willentlich oder nolens volens in Gang gesetzt, die folgenreich sind. Eine Generation, die ihre Bildwelt und ihr Weltbild schon fertig im Kopf hatte, bekommt die Möglichkeit, noch einmal auszuschwärmen und sich ein Bild zu machen. Das geschieht durch Reisen, die jetzt erst möglich oder attraktiv geworden sind, das geschieht durch Lektüren, für die es erst jetzt einen Grund gibt, durch überraschende Begegnungen, für die früher keine Gelegenheit bestand. Man hört oder lernt eine Sprache, man sieht sich in bisher fremden Städten um und macht sich mit kulturellen Kontexten und Hintergründen vertraut, die bisher – solange man sich nur in der eigenen Hemisphäre fortbewegt hatte – eben keine Relevanz besaßen. Auch damit wird alles anders. Bildwelten, Klangwelten, Intonationen, Gedankenverknüpfungen, Ideentransfers. Das nimmt auch institutionelle Züge an: Leute kommen in Instituten zusammen, Symposien und Kongresse bringen bisher geteilte Diskurse miteinander ins Gespräch, Institutes for Advanced Studies zirkulieren die neuen Leute und die neuen Themen. Es gilt jetzt nicht mehr die alte Teilung von Ost und West,
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