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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Autoren: Karl Schlögel
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sogar wohlhabend werden. Am anderen Ende entwickelte sich eine Basarstadt. Die ganze Kantstraße bis hinauf zur Neuen Kantstraße verwandelte sich ab Ende der 1980er Jahre bis weit in die 1990er Jahre hinein in einen einzigen Basar. Ein Elektronikgeschäft reihte sich ans andere, die Ware wurde auf dem Trottoir aufgestellt, Export-Import-Firmen schossen bald aus dem Boden, ein nicht abreißender Strom von Käufern zwischen Bahnhof Zoo und Kantstraße. Zuerst kamen die Studenten der Lumumba-Universität – Schwarzafrikaner, Mosambikaner, Kubaner –, später auch die Russen und endlich auch die »neuen Russen« mit ihren Cafés, Immobilien, Spielhöllen, Modegeschäften. Westberlin erwachte unsanft aus seinem Inseldasein. 1 »Anwohner« beschwerten sich, dass es in der einst so ruhigen Kantstraße laut geworden sei, dass man sich seinen Weg bahnen müsse durch die Berge von Verpackungskartons und Einkaufswägelchen. Das Neue kam als Unordnung, die Boulevardzeitungen spielten mit der alt-neuen Angst der Westberliner vor Unsicherheit und Chaos. Ein neuer Kriminalitätsdiskurs setzte ein. Auf der Kantstraße wurden plötzlich Sprachen gesprochen, die man in Westberlin jahrzehntelang nicht gehört hatte. Auf dem Fernbahnsteig kam es zu Szenen, die man seit Flüchtlingszeiten nicht mehr erlebt hatte: Gebirge von Kartons und Gepäckstücke, die alle in die Schlafwagenabteile bugsiert werden mussten. Aber es handelte sich nicht nur um Meisterleistungen der Logistik. Es bildeten sich neue Routinen aus. Neue mental maps – Kantstraße, Westberlin als neue Adresse – bei den Bewohnern des Ostblocks, aber auch eine Gewöhnung der Westberliner Insulaner, dass es noch eine Welt außerhalb Westdeutschlands und Mallorcas gab. Das Ende Westberlins als einer Insel war am sinnfälligsten gekommen, als Tausende von Polen die gottverlassene sandige Fläche des Potsdamer Platzes in einen gigantischen Marktplatz verwandelt hatten. In jenen Tagen begann die Neubildung der Stadt, die bis dahin Westberlin hieß. All das war Einübung in eine neue Mobilität, in die Veralltäglichung der massenhaften Grenzüberschreitung, die bis dahin ein Abenteuer der wenigen gewesen war. Die andere Zeit kam nicht auf Tigerpranken, nicht einmal auf Katzenpfoten, sondern fast unmerklich auf den Wägelchen der Ameisenhändler. Sie wanderten unter der Mauer hindurch, bevor sie fiel. Sie übergingen sie, als sie noch stand. Sie fuhren an den Grenzbeamten vorbei, als diese noch schwerbewaffnet zwischen der Reichstagsruine und dem Bahnhof Friedrichstraße patrouillierten und nicht ahnten, dass die Mauer vor ihren Augen sich aufzulösen begann. Bis heute gibt es am Bahnhof Zoologischer Garten kein Denkmal für die unbekannten Ameisenhändler von der Lumumba-Universität. Stattdessen soll ein Freiheitsdenkmal genau dort errichtet werden, wo sich buchstäblich gar nichts ereignet hat (ich glaube, es ist die Schlossfreiheit vor dem gesprengten Schloss und dem abgeräumten Palast der Republik).
Der Polenmarkt am Potsdamer Platz oder Der Basar als Neugründung der Stadt
    Der 9. November steht nicht so sehr im Zentrum meiner Erinnerung, weil es Ereignisse gegeben hat, die meine Aufmerksamkeit, ja Faszination beansprucht haben, so dass jene legendäre Nacht eher eine Nacht in einem Kontinuum war. Zu den Ereignissen, mit denen alles anders werden sollte, gehörte eben auch der Polenmarkt. Er war über Nacht zustande gekommen. Polen konnten mit ihren Pässen nach Westberlin reisen – sie taten es in den Nachtzügen, in eigenen Autos, per Autostopp usf. Sie überrumpelten die Ostberliner und Westberliner und alliierten Kontrollorgane gleichermaßen. Die Zeitungen im Frühjahr 1989 waren voll von alarmistischen Meldungen: Der Basar breite sich über die ganze Stadt aus, die Lebensmittel auf dem Basar entsprächen nicht den hygienischen Standards, die Toiletten in den Gebäuden am Kulturforum – Staatsbibliothek, Philharmonie, Nationalgalerie – seien überlaufen und verdreckt, die Kriminalitätsrate sei gestiegen, die Bezirksverwaltungen seien vom Verkehrschaos überfordert usf. Westberlin, Jahrzehnte eine abgeschnürte Insel, war von dem neuen Andrang – aus dem Osten – schockiert und überfordert. Die Überwindung der Mauer wurde als Gefährdung empfunden, und es dauerte eine Weile, bis sich die Gemüter beruhigt hatten und die Stadt sich auf den neuen Zustand eingestellt hatte. Aber der Basar in dem menschenverlassenen, heruntergekommenen Ruinengelände am
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