Gregor und der Spiegel der Wahrheit

Hosenbeine seine merkwürdige Fußbekleidung verbargen.
    Er ging auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer, um seiner schlafenden Großmutter einen Kuss zu geben, und deckte Boots besser zu. Um sie herum auf dem Kopfkissen saßen die Pfeilgiftfrösche aus Plastik. Ich muss mir wohl irgendwas überlegen, wie wir die loswerden, dachte er. Sein Vater schlief immer noch auf der Klappcouch. Bei Tageslicht sah Gregor, dass Lizzie recht hatte. Die merkwürdige Gesichtsfarbe, das Zittern seiner Hände … Er war wieder krank.
    Um zehn Uhr klopfte Gregor bei Mrs Cormaci an die Tür. Sie schaute ihn prüfend an, sagte, er sehe völlig fertig aus, und machte ihm einen großen Teller Rührei. Bevor sie ihm aber die Liste mit Besorgungen gab, führte sie ihn ins Wohnzimmer, um ihm sein Geburtstagsgeschenk zu überreichen. »Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte er und drehte das Päckchen in den Händen.
    »Ich glaube, die hier bin ich dir schuldig, so, wie ich dich immer durch die Gegend jage.«
    Er öffnete den Karton und sah, dass es ein Paar Sneakerswar. Und zwar nicht irgendwelche, sondern super Dinger, richtig coole Sneakers, von denen er nicht einmal zu träumen gewagt hätte, weil er wusste, dass sie zu teuer waren. »Oh, die sind echt toll«, sagte er.
    »Probier sie mal an! Wenn sie nicht passen, können wir sie umtauschen. Den Kassenzettel hab ich noch«, sagte sie.
    Doch Gregor rührte sich nicht. Denn um sie anzuprobieren, müsste er die merkwürdigen Sandalen ausziehen, die er sorgfältig unterm Couchtisch versteckt hatte, und dann müsste er sich irgendwas dazu einfallen lassen. Und das konnte er nicht. Er konnte nicht, weil ihm zu viel auf einmal im Kopf herumging: seine Mutter, die meilenweit unter der Erde lag und die Pest hatte; sein Vater, der einen Rückfall hatte; Lizzies sorgenvolles Gesicht; die Unmöglichkeit, mit alldem fertig zu werden. Was sollten sie bloß machen? Wenn seine Mutter monatelang weg war, wenn es seinem Vater wieder schlecht ging und er sich nicht um sie kümmern, geschweige denn wieder arbeiten gehen konnte – und selbst wenn er arbeiten konnte, wer sollte sich dann um Boots und die kranke Großmutter kümmern und woher sollte das Geld für all das kommen? Und wer auch immer er im Unterland war, in der wirklichen Welt war Gregor nur ein elf-, nein, zwölfjähriger Junge, der nicht wusste, was er machen sollte.
    »Gregor? Probierst du jetzt mal die Schuhe an?«, sagte Mrs Cormaci. »Wenn sie dir nicht gefallen, kannst du es ruhig sagen. Dann tauschen wir sie um.«
    »Nein, sie sind optimal«, sagte er. »Es ist nur …«
    »Was denn?«, sagte sie.
    Er brauchte Hilfe. Seine ganze Familie brauchte Hilfe, wenn sie diese Zeit überstehen wollten. Gregor war nicht gut im Lügen, und er war so furchtbar müde.
    »Gregor? Was ist?«, fragte Mrs Cormaci. Sie saß auf einem Stuhl ihm gegenüber. »Du hast irgendwas, das merke ich doch.«
    Gregor fummelte an den Schnürsenkeln der Schuhe herum, holte tief Luft und fasste einen Entschluss. »Mrs Cormaci?«, sagte er. »Mrs Cormaci … können Sie ein Geheimnis für sich behalten?«

Suzanne Collins , 1962 geboren, begründete ihren Ruhm als internationale Starautorin mit der fünfteiligen Abenteuerreihe um die Erlebnisse von Gregor und seiner kleinen Schwester Boots, die inzwischen sogar Gegenstand der Kinderwette von Wetten dass …? im ZDF geworden sind. Es folgte die packende Gesellschaftsutopie Die Tribute von Panem , eine Trilogie für junge Erwachsene. Suzanne Collins’ Bücher behaupten sich auf den ersten Plätzen der Bestsellerlisten, u.a. von New York Times , Wall Street Journal und Spiegel , und erhielten zahlreiche Auszeichnungen, so auch den Sonderpreis der Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises. Suzanne Collins wurde vom Time Magazine auf die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres 2010 gewählt.

Die Bücher über Gregor

Gregor und die graue Prophezeiung
Gregor und der Schlüssel zur Macht
Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Gregor und der Fluch des Unterlandes
Gregor und das Schwert des Kriegers

auch als Hörbuch bei Oetinger audio erschienen

© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2007
Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten
© Suzanne Collins 2005
Alle Rechte vorbehalten
Die amerikanische Originalausgabe erschien bei Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012, USA, unter dem Titel »Gregor and the Curse of the Warmbloods«.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die