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Graues Land (German Edition)

Graues Land (German Edition)

Titel: Graues Land (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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der vergangen Tage erkoren.
    Wenn ich noch meine Zeitung bekommen würde, wäre der Satz von Mister Stephen King wahrscheinlich in fettgedruckten Lettern auf die erste Seite gedruckt. Darunter das Foto einer schwarzen Welt, unter deren Himmel Aschewolken dahinziehen und die still und leer geworden ist.
    Aber ich bekomme keine Zeitung mehr. Der junge Daryll, der mit seinem roten Fahrrad und den wehenden Haaren immer den steinigen Weg durch die Hügel gefahren ist und bei jedem der weit verteilten Häuser seine Zeitung abgeliefert hat, war seit über einer Woche nicht mehr hier gewesen. Ich frage mich, ob der Junge noch lebt. Und sein leuchtend rotes Fahrrad, auf das er so lange gespart hat; steht es noch in der Garage seiner Eltern? Oder liegt es irgendwo auf der Straße oder in einem der Gräben, die sich aufgetan haben.
    Den Jungen vermisse ich wirklich.
    Es tat gut, ein paar Worte mit ihm zu wechseln, wenn er mir die Zeitung selbst an Regentagen durch den Vorgarten bis zur Haustür brachte. Seine Jugend ließ mich oft vergessen, wie alt ich bin.
    Aber noch mehr vermisse ich meine Zeitung. Mit ihr war auch der Strom verschwunden. Doch den Generator im Schuppen anzuwerfen, wage ich nicht. Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich nicht einmal daran, dass er noch funktionieren würde, nach all den Jahren, in denen er unbenutzt hinter Brettern und Kisten verborgen vor sich hingerostet hat.
    Irgendwie haben Sarah und ich nie soweit gedacht.
    Wir besaßen alles, was wir brauchten, um glücklich zu sein, genossen die Abgeschiedenheit unseres Heimes und die Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation, und hätten nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass es einmal anders kommen könnte; dass die Welt sich weiterdreht , wie es Mister King vor vielen Jahren so treffend formuliert hatte.
    Als ich die oberste Stufe erreiche, verharre ich einige Sekunden, um meinen geschundenen Knochen etwas Ruhe zu gönnen. Dann greife ich mit der freien Hand die Petroleumlampe auf dem Geländerpfosten und gehe den Flur entlang zum Schlafzimmer.
    Die Schatten weichen respektvoll vor mir zurück. Das durch einen Glaszylinder gedämpfte Licht der Lampe wirft einen sanften Schein auf die alte Tapete, deren Blumenmuster vor ungefähr vierzig Jahren modern gewesen ist.
    Es gibt so viel, was mich an Sarah erinnert. An manchen Tagen brennt der Schmerz wie Feuer in meinen Eingeweiden. Dann versuche ich zu vermeiden, dass meine Augen an ihrer Sammlung von Porzellanfiguren hängenbleiben, oder an den gerahmten Fotos auf dem Kaminsims, die mir voller Hohn die Geschichten einer längst erloschenen Zeit erzählen wollen.
    Vor der Schlafzimmertür bleibe ich stehen und blicke zur dunklen Decke empor. Wie jedes Mal, wenn ich Sarahs Zimmer betrete, schicke ich einige verzweifelte Worte an einen Gott, den es womöglich gar nicht gibt. Ich sagte ja bereits, ich war nie ein besonders gläubiger Mensch. Gott und Kirche habe ich als etwas akzeptiert, das sich nun mal in meiner unmittelbaren Umgebung befindet. Etwa so wie die große Wiese hinter dem Haus, die sich bis zu den Schatten des Waldrands erstreckt. Oder aber den schäbigen Gemischtwarenladen des alten Murphy, wo Sarah und ich immer unsere Einkäufe erledigt und anschließend mit Murphy noch eine Tasse Tee getrunken haben.
    All diese Dinge gehörten eben zu meinem Leben dazu. Und genauso haben Gott und seine Prediger dazugehört. Aber er war nie etwas Besonderes für mich gewesen. Was die anderen in ihm und seinem Wirken gesehen haben, konnte ich tief in meinem Innern nie nachvollziehen. Warum ich ausgerechnet jetzt das Wort an ihn richte, kann ich nicht sagen.
    Ein Mann mit meinem Glauben sollte der Erste sein, der sagt, Gott hätte sich von seiner Schöpfung abgewendet. Unter normalen Umständen sollte ich ihm vorwerfen, dass er die Menschen im Stich gelassen hat. Und wahrscheinlich hätte ich das auch wirklich lautstark getan, würde hinter der Tür nicht Sarah liegen.
    Sie ist alles, was mir noch geblieben ist.
    Gott hat mir alles genommen: Die Geräusche und Gerüche der Welt, so wie ich sie seit siebzig Jahren kenne. Er hat mir das Licht genommen und die behagliche Wärme. Und nicht zuletzt jegliche Hoffnung auf das Erleben meiner Zukunft. Nur Sarah hat er mir gelassen, auch wenn sie nicht mehr dieselbe ist wie früher.
    Die Worte, die ich an Gott richte, sind einfach nur eine Bitte. Ich wünsche mir, wenn ich den Raum betrete und mich an ihr Bett setze, ihren Atem zu spüren und zu sehen, wie
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