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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag
Autoren: John Irving
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sich zu besinnen, warum die Frau gekommen war, und vielleicht schien es ihm unmoralisch, einer solchen Frau tatsächlich über den Schnee zu helfen. Er fuhr los und überließ es ihr, sich vorsichtig einen Weg zum Eingang zu bahnen – und zu Homer Wells. Homer läutete die Türglocke für die Frau, die nicht zu wissen schien, was sie tun sollte. Es kam ihm vor, als hoffte sie auf ein wenig Zeit, um nachzudenken, was auch sie zu Dr. Larch sagen solle.
    Für jeden, der die beiden dort stehen sah, war dies eine Mutter mit ihrem Sohn. Eben diese Vertrautheit lag in der Art, wie sie einander anschauten, und in dem klaren Einander-Erkennen – sie wußten ganz genau, was mit dem anderen los war. Homer hatte Angst vor dem, was Dr. Larch zu ihm sagen würde, doch er erkannte, daß die Frau noch größere Angst hatte – die Frau kannte Dr. Larch nicht; sie hatte keine Ahnung, was für ein Ort St. Cloud’s war.
    Innen gingen mehr Lichter an, und Homer erkannte die engelhafte Gestalt Schwester Angelas, die kam, um die Tür zu öffnen. Aus irgendeinem Grund streckte er die Hand aus und griff nach der Hand der schwangeren Frau. Vielleicht war es die angefrorene Träne in ihrem Gesicht, die im stärkeren Licht aufleuchtete, doch er selbst brauchte auch eine Hand, an der er sich festhalten konnte. Jedenfalls war Homer Wells gefaßt, als Schwester Angela ungläubig in die Schneenacht hinauslugte, während sie sich mühte, die zugefrorene Tür zu öffnen. Zu der schwangeren Frau und ihrem ungewollten Kind sagte Homer: »Keine Angst, hier sind alle freundlich.«
    Er spürte, wie die schwangere Frau seine Hand drückte, so fest, daß es schmerzte. Das Wort »Mutter!« lag ihm sonderbar auf den Lippen, als Schwester Angela endlich die Tür aufstieß und Homer Wells in die Arme schloß.
    »Oh, oh!« rief sie. »Oh, Homer – mein Homer, unser Homer! Ich wußte, du würdest wiederkommen!«
    Und weil die Hand der schwangeren Frau noch immer Homers Hand hielt – da irgendwie keiner von beiden loslassen konnte –, drehte sich Schwester Angela zur Seite und schloß auch die Frau in ihre Umarmung ein.
    Es schien Schwester Angela, als sei auch diese schwangere Frau eine Waise, die (wie Homer Wells) genau dorthin gehörte, wo sie jetzt stand. 
     
    Dr. Larch erzählte er lediglich, daß er sich in Waterville nicht nützlich gefühlt habe. Wegen der Dinge, die die Drapers erzählt hatten, als sie Larch anriefen, um zu sagen, daß Homer weggelaufen sei, mußte Homer das mit der Fummelei erklären – anschließend erklärte St. Larch Homer alles über die Fummelei. Der Suff des Professors verwunderte Larch (in der Regel fand er solche Sachen ganz schnell heraus), über die Gebete war er mehr als nur verwundert. Dr. Larchs Brief an die Drapers war von einer Bündigkeit, wie sie selbst beim Professor nur selten vorkam.
    »Tut Buße«, lautete der Brief. Larch hätte es dabei bewenden lassen können, aber er konnte nicht widerstehen hinzuzufügen: »Ihr seid lasterhaft, Ihr solltet Euch verabscheuen.«
    Wilbur Larch wußte, daß eine vierte Pflegefamilie für Homer Wells nicht so einfach zu finden sein würde. Die Suche kostete Dr. Larch drei Jahre, und Homer war inzwischen zwölf – beinah dreizehn. Larch wußte, wie prekär die Situation war: Homer würde Jahre brauchen, um sich woanders so wohl zu fühlen wie in St. Cloud’s.
    »Hier in St. Cloud’s«, schrieb Larch in sein Tagebuch, »haben wir nur ein Problem. Daß es immer Waisen geben wird, gehört nicht in die Kategorie Problem; es läßt sich einfach nicht lösen – wir tun unser Bestes, indem wir für sie sorgen. Daß unser Budget immer zu klein sein wird, ist ebenfalls kein Problem – ein Waisenhaus ist immer von der Pleite bedroht; so muß es sein, per Definition. Und es ist kein Problem, daß nicht jede Frau, die schwanger wird, unbedingt auch ihr Baby haben will; vielleicht dürfen wir einer aufgeklärteren Zeit entgegensehen, in der Frauen das Recht haben werden, die Geburt eines ungewollten Kindes abzuwenden – doch einige Frauen werden immer unwissend sein, verwirrt, verängstigt. Auch in aufgeklärten Zeiten wird es unerwünschten Babys gelingen, auf die Welt zu kommen.
    Und es wird immer Babys geben, die sehr erwünscht waren, dann aber als Waisen enden – sei es durch Unfall, durch vorsätzliche oder zufällige Akte der Gewalt, die ebenfalls keine Probleme sind. Hier in St. Cloud’s würden wir unsere beschränkte Kraft und unsere beschränkte Phantasie vergeuden,
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