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Gößling, Andreas

Gößling, Andreas

Titel: Gößling, Andreas
Autoren: Tzapalil - Im Bann des Jaguars
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eine rollende Luxusinsel inmitten dieser schreiend bunten Armut. Und doch schienen die Leute draußen alle gut gelaunt. Überall sah man lachende Gesichter und niemand warf ihnen böse oder auch nur neidische Blicke zu.
    Sie ließen die Blechhütten linker Hand liegen und bogen nach rechts auf eine Dammstraße ein. Die Schlaglöcher waren hier so tief und zahlreich, dass die Stoßdämpfer ächzten und sie im Auto hin und her geworfen wurden wie auf der Geisterbahn. Zu beiden Seiten der schmalen Straße glitzerte jetzt der See, in dessen endloser Fläche sich die Sterne spiegelten. Vor ihnen erhob sich die Insel aus dem Wasser, die Carmen vorhin schon vom Flugzeug aus gesehen hatte.
    »Das ist Flores, cariña.« Maria wandte sich zu ihr um und deutete energisch nach vorn. »Mit den Favelas da hinten haben wir nichts zu tun.« Sie winkte in Richtung der Wellblechhütten ab und drehte sich wieder nach vorn. »Noch fünf Minuten, dann sind wir zu Hause.«
    Wie zum Beweis wurde die Straße wieder glatter. Das Rütteln und Ächzen hörte auf und der Fahrer beschleunigte so stark, dass Carmen gegen die Rücklehne gepresst wurde. Wie von selbst fielen ihr die Augen zu. Auf einmal sah sie Nico vor sich, wie er sie ganz lieb anschaute und ihr eine Haarsträhne hinters Ohr strich.
     
    Hi Nico, ich bin nicht mehr sauer auf dich. Aber ich bin zehntausend Kilometer weg von dir.
     
    Carmen
     
    Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie blinzelte und schniefte. Erst als der Motor ausging, merkte sie, dass sie offenbar angekommen waren.
    Carmen wischte sich über die Augen. Sie standen am Rand einer Straße, die in hellem Mondschein lag. Ihre Eltern waren schon ausgestiegen, ebenso der Fahrer, der jetzt hinter ihr die Hecktür öffnete und ihre Koffer auslud. Vor dem Seitenfenster erkannte sie die Silhouette einer hohen, lang gestreckten Mauer, halb verborgen hinter Bäumen und wucherndem Grün. Irgendwo weiter weg im Dunkeln war der See mehr zu spüren, als zu sehen.
    Sie öffnete die Tür und stieg aus. Die Schwüle war wie ein Schlag mit einem nassen, heißen Lappen, der einen am ganzen Körper zur gleichen Zeit traf. Carmen ging um den Van herum zu ihren Eltern, die vor einem Tor in der hohen Mauer standen, inmitten ihrer Koffer. Der Fahrer verabschiedete sich und kehrte zu seinem Wagen zurück. Aber wer war der zierliche Mann in weißem Hemd und schwarzer, eng anliegender Hose, der in diesem Moment aus dem Tor trat und Maria und Georg mit förmlichem Händedruck begrüßte?
    »Ah, Frau Dr. Lambert, Herr Ingenieur – was für eine Ehre.«
    Zuerst dachte Carmen, es wäre der Mann vom Flughafen, der hinter ihrer Mutter aus jener Tür gekommen war. Aber sie war sich keineswegs sicher, auch wenn er jetzt auf die mondbeschienene Straße trat, sodass sie sein Gesicht erkennen konnte. Den Mann vom Flughafen hatte sie ja nur ganz kurz und aus der Ferne gesehen. Und außerdem – warum sollte ihre Mutter dort heimlich mit ihm zusammentreffen, wenn er sie nun hier vor ihrem Haus begrüßte? Nein, das ergab keinen Sinn.
    Langsam kam sie um den Wagen herum und ging auf ihre Eltern und den Mann im weißen Hemd zu. Er war vielleicht dreißig Jahre alt, mit fein geschnittenem Gesicht, zierlicher Gestalt und einer Haut wie Milchkakao.
    »Ah, die Señorita.« Er schüttelte Carmens Hand. »Paolo Cingalez – sehr erfreut, sehr erfreut. Wann immer Sie Hilfe brauchen, Señorita Carmen – wenden Sie sich vertrauensvoll an mich.«

3
     
    Als Carmen am nächsten Morgen aufwachte, begriff sie zuerst überhaupt nicht, wo sie sich befand und wie sie an diesen seltsamen Ort geraten war. In ein Zimmer, das nur ein knarrendes Bett, einen Schrank ohne Türen und einen uralten Schreibtisch mit schiefen Beinen enthielt. Vor dem Fenster, das bloß aus einem Holzrahmen mit Moskitonetz und aufgeklappten Holzläden bestand, wiegten sich blühende Büsche im leichten Wind. Zikaden zirpten, Vögel stießen kunstvolle Triller aus. Carmen streckte sich und gähnte. Plötzlich klopfte jemand an ihre Tür.
    »Moment!«, rief sie und sah erschrocken im Zimmer umher. Auf dem Steinboden lagen ihr Koffer, ihre Handtasche und Anziehsachen verstreut. Dunkel erinnerte sie sich, dass sie gestern Abend unter eine Dusche getaumelt und anschließend in dieses Bett gefallen war.
    Obwohl sie sich nur mit einem Laken zugedeckt hatte, war sie schon wieder nass geschwitzt. »Wer ist denn da überhaupt?«
    »Ich bin’s – Georg«, rief ihr Vater durch die Tür.
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