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Glück, ich sehe dich anders

Glück, ich sehe dich anders

Titel: Glück, ich sehe dich anders
Autoren: Melanie Ahrens
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sei, antwortete sie: »Das ist ganz weit weg!« Wir erklärten ihr, dass nicht alle nett und freundlich sind, sondern dass es auch böse Menschen gibt.
    Oft begrüßt sie schon aus Metern Entfernung die Menschen, die uns entgegenkommen. Dann sage ich schon mal zu ihr: »Loreen, du weißt doch gar nicht, wer das ist. Du musst nicht immer jeden begrüßen und nicht immer so laut rufen. Es könnte auch ein böser Mensch sein!«
    Wenn die Leute vor uns stehen, schreit Loreen sie an: »Du böse. Mama sagt, du böse!« Das ist natürlich peinlich. Ich komme dann mit den Menschen ins Gespräch, und meistens sind sie auch sehr nett und haben Verständnis. Sie sind immer von Loreen begeistert und versichern mir, dass es wirklich nicht selbstverständlich ist, dass ein Kind in dem Alter so freundlich und aufgeschlossen ist. Sie bestaunen oft Loreens einnehmendes Profil. Sie hat eine auffällige Gesichtsform.
    Die Leute lachen herzhaft, wenn Loreen sie mit »Na, altes Haus!« begrüßt. Das hat sie einmal irgendwo aufgeschnappt, abgespeichert und wirft es immer mal wieder ein. Die Menschen fragen mich oft, ob es normal ist, dass Loreen so freundlich ist. Ich erzähle dann, dass sie sehr sensibel ist und genau spürt, wer es gut mit ihr meint und wer nicht. Sie beachtet Menschen nicht, die ihr nicht geheuer sind. Besonders ältere Herrschaften haben es ihr angetan. Vor grauhaarigen oder graubärtigen Opis bleibt sie wie versteinert stehen und schaut sie mit offenem Mund an. Dann fängt sie an, in ihrer fantasievollen Sprache zu erzählen: »Weißt du, weißt du. Lange, lange ist es her. Es war einmal vor langer Zeit. Ein Strommast namens Mamo hüpfte und quietschte lustig. Eine Freundin, eine Windmühle, kam herbei und drehte sich. Und alle Leute klatschen.«
    Loreen ist anhänglicher geworden. Sie möchte überhaupt nicht mehr länger als einen halben Tag zu ihrer geliebten Oma Karin. Sie vergewissert sich zehnmal, ob ich auch wirklich wiederkomme und sie abhole. Langsam spüre ich, dass ihr die Trennung von Louise wahrscheinlich immer bewusster wird. Vielleicht hat sie insgeheim gedacht, Louise komme doch wieder. Sie sei nur zeitweise irgendwo anders – wie bei ihren vielen langen Krankenhausaufenthalten – und sei bald wieder zu Hause. Nur ist es diesmal ein viel längerer Aufenthalt. Vielleicht hat sie Angst, dass auch sie irgendwann wegmuss, dass wir sie womöglich abgeben, sie irgendwo lassen und sie nicht zurückholen. Loreen geht nicht mehr gern auf den Friedhof, um Louises Garten zu besuchen.
    Loreen sagte letztlich: »Ein Loch buddeln und dann Kiste rein.« Ich wusste gar nicht, was ich darauf sagen sollte. Wo hat sie das aufgeschnappt? Louise ist doch eingeäschert worden. Da war keine Kiste. Oder meinte sie den Sarg in der Kapelle? Auch war sie nicht bei der Beisetzung anwesend. Immer häufiger nimmt sie das Buch zur Hand, das ich ihr gebastelt habe. Sie erzählt dann, dass Louise im Himmel ein Engelein ist. Und alle müssen leise sein, weil sie auf einer Wolke schläft.
    Loreen hat eine neue Freundin. Anneke. Aber Anneke gibt es nicht wirklich. Sie spielt nur in Loreens Fantasie mit ihr. Loreen begrüßt Anneke an unserem Tisch. Aber dort sitzt niemand. Sie ruft laut: »Hallo, Anneke, ich bin’s, Loreen. Willst du mit mir spielen?« Dann wartet sie einen Augenblick und sagt: »Komm mit. Wir fahren einkaufen. Mama, Papa und Loreen und Anneke!« Anneke sitzt mit Loreen auch in der Badewanne. Sie begleitet Loreen zum Kindergarten. Wenn der Zivi Loreen morgens mit dem Bus zum Kindergarten abholt, sagt sie zu mir: »Anneke muss mit!« Ich frage Loreen, wer Anneke denn ist. Sie antwortet: »Eine Schwester. Eine Freundin.«

LEBEN OHNE DICH
    I ch mache mir Vorwürfe. Hatten wir doch etwas übersehen? Hätten wir Louise nicht doch helfen können? Ich wünsche mir, dass ich die letzten Tage, die letzte Nacht noch einmal mit Louise durchleben könnte.
    Und gleich in der Nacht darauf träume ich es.
    Es geschieht im Traum genau so, wie es in Wirklichkeit passiert ist. Und ich sehe mich im Traum neben mir selbst stehen, und dann sage ich zu meinem Gegenüber: »Sieh hin, du kannst nichts anders machen. Du hast nichts falsch gemacht!«
    Ich träume, dass Louise bei uns im Badezimmer sitzt, sie lacht und albert herum. Ich kann sie aber nicht anfassen. Sie fordert mich auf, sie zu fotografieren. Ich halte diese Momente fest. Ich knipse sie zehnmal, zwanzigmal.
    Ich träume, dass Louise in ihrem Zimmer auf dem Bett sitzt. Sie
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