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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Buchhandlung.
    »Ja, natürlich!«
    Wir verließen den Laden (der menschenleer war: Lebaz, bis zum Äußersten gereizt, hatte sich wohl aus Trotz auf den Boden gelegt, die Nase irgendwo bei Z, wenn er sich nicht gar in Luft aufgelöst hatte) und begaben uns zu einer Bar-Tabac, die ganz in der Nähe war, der
Marie Read
.
    Hier eine Parenthese. Der Name »Marie Read« traf mich wie ein Dolchstoß, denn den Vornamen »Marie« zu hören oder zu sehen, tut mir immer weh, auch weil »Marie Read« der Name des Kahns war, auf dem Maxime am Sonntag, den 25. Mai, mit Anabel Trieste verabredet gewesen war. (Ich erinnere mich, wie ich an einem späten Nachmittag vor Irènes Läuten in meinen Nachschlagewerken gestöbert und entdeckt hatte, dass Marie Read eine englische Piratenfrau aus dem 18. Jahrhundert war, die sich in ihrem erstaunlichen Abenteurerleben häufig für einen Mann ausgegeben hatte.)
    Ich hatte Clara mehrmals versichert: »Ich werde es Ihnen erklären.« Ihr was erklären? Wie es dazu kam, dass ich sie bei Lebaz wiedererkannt hatte? Also ihr gestehen, dass ich wenige Tage zuvor in Saint-Maur, im Atelier ihres Onkels gewesen war? Ihr also alles gestehen. Das Haus in der Nummer 3, der Tod von Maxime, meine Flucht in das Haus in der Nummer 1, der Zettel an der Tür, das Portrait über dem Klavier, das mich hatte erstarren lassen, der Anruf der Entführer, meine Entscheidung zu zahlen, und alles Weitere. Mir von dem Vierzeiler zu erzählen, der uns wie durch ein Wunder in der Buchhandlung du Dragon zusammengeführt hatte, hieß für sie wiederum, mir von ihrem Großvater Albin Nomen zu erzählen, der gemeinsam mit seiner Frau Éva einem grausigen Überfall zum Opfer gefallen war (genau am Tag meiner Geburt), über ihre Mutter Lucie, die von den Angreifern verschont geblieben war, von der Krankheit, die Lucie kurz nach ihrer Geburt fortgerafft hatte, von der Kommode mit dem angenehmen Geruch nach lackiertem Holz, in der Lucie ihre persönlichen Dinge auf bewahrteund in deren Schubfach Clara das in helles Leder gebundene
Giulio Giannini e figlio
-Heft gefunden hatte, das Éva in Florenz gekauft hatte, auf diese Weise hatte sie die vier Verse bereits in ihrer Kindheit kennengelernt – damit erzählte sie mir schon viel von ihrem Leben.
    Unsere beiden ungeduldigen Erzählungen, die seit so Langem ineinander verliebt waren, dass sie es kaum erwarten konnten, miteinander zu verschmelzen, sich zu ergänzen, zueinander zu finden, eins zu werden, unsere beiden Erzählungen begannen in der
Marie Read
(wo ich die Kunst des Malers, ihres Onkels Michel Nomen zu schätzen lernte, die darin bestand, Claras Blick einzufangen, einen Blick, der aus Kindlichkeit und zeitlosem Ernst bestand, und ihr Lächeln, dieser Ansatz eines Lächelns und, wenn sie mehr lächelte, dieses zugleich bemerkenswerte und kaum wahrnehmbare Anheben der Lippen bis über das obere Zahnfleisch, das die unbändige Lust in einem weckte, sich zu ihr vorzubeugen und ihren Mund zu küssen), unsere beiden gierigen Erzählungen setzten sich im Auto fort, als ich ihre leichte Schramme am Knie erblickte, setzten sich auch bei mir noch fort, in der Rue des Martyrs, wo ich angehalten hatte, um ein paar Dinge einzupacken, für den (gewiss eintretenden) Fall, dass ich ein, zwei Tage oder länger bei Clara in der Impasse du Midi verbringen würde – denn wir waren uns darin einig, dass es ausgeschlossen war, an diesem Tag auseinander zu gehen, so unbändig waren unser Hunger und unser Durst, endlich vereint zu sein und unsere Bekenntnisse bis ans äußerste Ende zu treiben.
    In der Wohnung zeigte ich ihr die erste Seite meines roten Hefts, die vier Verse – so wie sie mir später dieselben vier Verse zeigen sollte, die ein Unbekannter (Albin?) handschriftlich in das kurze Tagebuch ihrer Mutter eingetragen hatte.
    Und ich hörte in ihrem Beisein Mireilles Nachricht ab: »Clara weilt wieder unter uns, alles steht zum Besten, sie war bei ihrer Amme im Süden.«
    »Ich war nicht bei Alma Perez«, sagte Clara mit fester und ruhiger Stimme. »Auch ich habe Ihnen außergewöhnliche Dinge zu berichten.«
    Unsere beiden Erzählungen endeten spät in der Nacht in Saint-Maur.
    Claras letzte Worte waren der Schilderung der Episode ihrer Entführung durch
Stkouspr
gewidmet, von der sie geglaubt hatte, sie würde sie nie irgendjemandem anvertrauen können – doch als sie gehört hatte, wie ich den Vierzeiler in dem Laden des buckligen Lebaz aufsagte, wusste sie, dass sie ihr
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