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Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy

Titel: Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
Autoren: Pauline Réage
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Tage später, als sie am frühen Nachmittag in ihrem gelb grauen Kleid des ersten Tages darauf wartete, daß ihr ein Diener die kleine Gittertür aufschließe, damit sie in die Bibliothek gehen könne, hörte sie jemanden hinter sich rennen und drehte sich um: es war Anne-Marie, die eine Zeitung in der Hand hielt und sie ihr hinstreckte, so bleich, wie O sie nie gesehen hatte. »Sieh dir das an«, sagte sie. Os Herz krampfte sich in der Brust zusammen: auf der ersten Seite ein verstörtes Gesicht, der Mund halboffen, Augen, die starr geradeaus sehen: sein Gesicht. Eine Balkenüberschrift: »Wer ist die nackte Frau des Verbrechens von Franchard?« - »Alpinisten«, hieß es in dem Artikel, »die in den Schluchten von Franchard im Wald von Fontainebleau trainierten, haben, durch das Bellen eines Hundes aufmerksam geworden, im Unterholz die Leiche eines durch einen Genickschuß getöteten Mannes entdeckt. Der Unbekannte, der Ausländer zu sein scheint, war seiner sämtlichen Papiere beraubt worden. Nur eine durch eine schadhafte Tasche in das Jackenfutter gerutschte Photographie einer völlig nackten Frau ist bei ihm gefunden worden, nach gewissen Anzeichen wahrscheinlich eine Prostituierte, die die Polizei sucht.« Die nachfolgende Personenbeschreibung nahm O jeden Zweifel; es war Carl. »Du verstehst, wer das sein kann?« fragte Anne-Marie. »Oh ja«, sagte O. »Sir Stephen.. Man darf nichts sagen.« - »Doch«, sagte Anne-Marie, »aber du brauchst nicht zu sagen, daß Sir Stephen dich hierher geschickt hat. Immerhin kann es sein, daß es bekannt wird.« Als die Polizei nach Roissy kam, war Carl an Hand der Etiketten in seinem Anzug und seiner Wäsche durch seinen Schneider und die Kellner seines Hotels identifiziert worden. O wurde nur vernommen, um die Ermittlung zu ergänzen, und eigentlich mehr über Sir Stephen. Man wußte, daß er mit Carl in Verbindung stand. Was für Beziehungen waren das? O wußte es nicht. Nach dreistündiger Vernehmung hatte O immer noch nichts gesagt und nur versichert, daß sie Sir Stephen seit zwei Monaten nicht gesehen habe. »Aber fragen Sie ihn doch selbst«, rief sie schließlich, »und was geht Sie das überhaupt an?« - »Du hast wohl nicht begriffen, daß dein schöner Freund wahrscheinlich den Belgier liquidiert hat und darum verschwunden ist. Aber wenn man es ihm erst nachweist...« Man wies es ihm nicht nach. Man wußte, daß Carl mit Bergwerken in Zentralafrika zu tun hatte, in denen seltene Metalle abgebaut wurden, und nachdem er, ohne dazu berechtigt zu sein, und gegen beträchtliche Summen (deren Spuren man auf seinen Bankkonten fand, aber die Beträge waren abgehoben), die Konzessionen oder ihren Ertrag an ausländische Interessenten - vielleicht englische, vielleicht Sir Stephen verkauft hatte, nahm man an, daß er im Begriff war, Europa zu verlassen, und daß sich diese Interessenten, da sie sich betrogen sahen und ihn nicht gerichtlich belangen konnten, gerächt hatten. Ob man Sir Stephen die Hand auf die Schulter werde legen können ... das hänge davon ab, ob er wiederkommt...
»Du bist jetzt frei, O«, sagte Anne-Marie. »Man kann dir deine Eisen, das Halsband und die Armreifen abnehmen, die Male entfernen. Du hast Diamanten, du kannst nach Hause zurückkehren.« O weinte nicht, sie klagte nicht. Sie gab Anne-Marie keine Antwort. »Aber wenn du willst«, sagte Anne-Marie noch, »kannst du hier bleiben.«
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