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Geräusch einer Schnecke beim Essen

Geräusch einer Schnecke beim Essen

Titel: Geräusch einer Schnecke beim Essen
Autoren: E Tova Bailey
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ausprobierte, hatte meine erste Schnecke Eier gelegt, ihre Jungen waren ausgeschlüpft, und sie war wieder in ihren heimischen Wald zurückgekehrt, wo sie sich vermutlich einen Partner gesucht hatte. Und im Spätherbst hatte sie dann ihre Winterruhe angetreten.
    Im Lauf der Wintermonate fiel mir auf, dass sich mein Verhalten bei der Schneckenbeobachtung veränderte. Im vergangenen Frühling, als ich fast nichts hatte tun können, war es äußerst unterhaltsam gewesen, mich mit der Schnecke zu befassen. Doch nun, da ich meine Körperfunktionen zumindest ansatzweise zurückgewonnen hatte, begann die Schneckenbeobachtung Geduld zu erfordern. Ich fragte mich, an welchem Punkt meiner Genesung ich die Welt der Gastropoden wohl hinter mir lassen würde.
     
    Meine erste Schnecke sollte immer einen festen Platz in meinem Herzen haben, ihren Abkömmling hingegen mochte ich zwar auch gern, doch befand er sich oft in der Sommerruhe, und ich wiederum wurde oft durch anderes abgelenkt. Freunde kamen vorbei und gingen mit Brandy im winterlichen Wald spazieren. Vom Fenster aus sah ich zu, wie mein Hund ausgelassen durch die Schneewehen sprang. Aus reinem Vergnügen stürzte er sich kopfüber in den Tiefschnee, rollte sich auf den Rücken, um ein eiskaltes Bad zu nehmen, und strampelte begeistert mit den himmelwärts gerichteten Beinen.
    Nachbarn schauten vorbei und berichteten mir das Neuste aus der Gegend: Eine Kuh, die ausgerissen war, hatte man durch den Wald irrend wiedergefunden; ein paar Leute, die an einem für Ende Februar ungewöhnlich warmen Nachmittag bei sich hinterm Haus Ski gefahren waren, hatten schließlich die Skier stehen lassen, sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und waren zum Sonnenbaden auf einen von blattlosen Ranken bewachsenen Felsen geklettert, nur um Tage später festzustellen, dass es sie überall juckte – ein seltener Fall von Gift-Efeu mitten im Winter. Andere Geschichten hatten sich während meiner Abwesenheit ereignet: So war im Frühling der Hund eines Nachbarn eines Tages mit dem unversehrten Ei eines wilden Truthahns, das er ganz vorsichtig im Maul hielt, nach Hause gekommen.
    Ich war froh und dankbar um meine engen Freunde und meine Nachbarn, aber mir fehlte der weitere Kreis – Bekannte, vertraut und geheimnisvoll zugleich, und die interessanten Neuen, die alles beleben. Mit jedem Rückfall reduziert sich mein Leben erneut auf seinen innersten Kern. Und jedes Mal, wenn ich, langsam und über viele Jahre, wieder auf meinem Weg zurück zu dem Leben bin, das ich einst kannte, stelle ich fest, dass fast nichts mehr so ist, wie ich es in Erinnerung hatte: In meiner Abwesenheit hat sich die Welt verändert.
    Die Schneehaufen schmolzen dahin, und in der Luft war ein Hauch von Frühling zu erahnen.
    Die junge Schnecke hielt immer noch Sommerruhe auf der Unterseite eines Farnwedels. Da ich annahm, dass sie hungrig sein würde, wenn sie erwachte, legte ich einen frischen Champignon ins Terrarium und fragte mich, ob sie wohl spürte, dass die Tage länger wurden. Ich sehnte mich danach, die Fenster öffnen und mich im Freien aufhalten zu können, und sei es auch nur in nächster Nähe des Hauses. Ich schrieb einem meiner Ärzte:
     
    Ich hätte mir niemals träumen lassen, was mich durch das vergangene Jahr gebracht hat: eine Waldschnecke und ihre Nachkommen – ohne sie hätte ich es, glaube ich, wirklich nicht geschafft. Zu beobachten, wie ein anderes Geschöpf seinem Leben nachgeht… gab auch mir, der Beobachterin, einen Daseinszweck. Wenn der Schnecke das Leben etwas bedeutete und die Schnecke mir etwas bedeutete, hieß das, das irgendetwas in meinem Leben von Bedeutung war, also hielt ich durch… Gemessen an den Kriegen, die derzeit auf der ganzen Welt toben, oder auch an tausend anderen Menschenproblemen mögen Schnecken winzig und unbedeutend scheinen, doch es kann gut sein, dass sie unsere Spezies einmal überleben werden.

21 . Frühlingsregen
     
    Wohin des Weges
Bei diesem starken Regen
Du kleine Schnecke?
    Kobayashi Issa ( 1763 – 1827 )
     
    Die ersten kalten Regenschauer fielen, und als es im Lauf der folgenden Wochen allmählich wärmer wurde, begannen abends die Frühlingspfeifer und Waldfrösche zu singen. Durch die erhöhte Luftfeuchtigkeit erwachte die junge Schnecke, kletterte von ihrem Farnwedel herunter und wurde aktiv. Bald würde sie voll entwickelt sein, und es war an der Zeit, sie in der freien Natur auszusetzen, damit sie sich ein eigenes Gebiet und einen Partner
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