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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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Frage zum Beispiel, aus welchen Gründen die erste deutsche Demokratie gescheitert war und wie sich die Fehler von Weimar in dem neuen deutschen Staat vermeiden ließen, hat in der Gründungsphase der Bundesrepublik eine enorm große Rolle gespielt, und zwar über die Parteigrenzen hinweg. Die Arbeit des Parlamentarischen Rats war bewundernswert und prägend für viele spätere Debatten. Ob man wirklich so viele angeblich «bekehrte» Nazis, die tatkräftig im Regime mitgemacht hatten, hätte im Amt belassen müssen, steht auf einem anderen Blatt.

II Zwei Weltkriege
    FISCHER    Glauben Sie wirklich, Fritz, dass die Deutschen sich nächstes Jahr noch einmal wegen der Kriegsschuldfrage 1914 in die Haare kriegen? Der Erste Weltkrieg spielt doch in der öffentlichen Debatte bei uns heute keine Rolle mehr, anders als in England oder auch in Frankreich. Aber für die breitere Öffentlichkeit in Deutschland ist der Erste Weltkrieg schon lange kein Thema mehr.
    STERN    Das mag stimmen. Trotzdem würde ich annehmen, dass ganz Europa sich erinnern wird. Und deswegen wird man auch in Deutschland wieder diskutieren, möglicherweise polemisieren.
    FISCHER    Ja, in den Kreisen der Fachhistoriker ganz sicher. Aber die Frage ist doch, ob das auch eine breitere Öffentlichkeit interessiert. Sie sprachen eben von dem historischen Bewusstsein, von dem die Väter und Mütter des Grundgesetzes durchdrungen waren. Das ist fast völlig verschwunden, man könnte fast von einer Enthistorisierung des politischen Bewusstseins in Deutschland sprechen. So geschichtsbesoffen dieses Land in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch immer gewesen war, so sehr scheint es mir im Moment völlig auf Entzug zu sein. Der Erste Weltkrieg, das sind heute ein paar verwitterte Steine in Form von Kriegerdenkmälern und Soldatenfriedhöfen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass er für die breite Öffentlichkeit noch eine Rolle spielt, geschweige denn von dieser als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts begriffen wird. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bedauere diese Entwicklung sehr und halte den Mangel an Geschichtsbewusstsein sogar für gefährlich.
    STERN    Ja, leider muss man feststellen, dass das Geschichtsbewusstsein in den meisten Ländern sehr abgenommen hat; was sich hält, sind die offenbar unausrottbaren Geschichtslegenden. Auf der anderen Seite gibt es auch ein neu erwachtes Geschichtsinteresse, denken Sie zum Beispiel an die Preußen-Renaissance, die vor einigen Jahren durch das glänzende Buch von Christopher Clarke ausgelöst wurde.
    FISCHER    Preußen wird für meinen Geschmack zu sehr idealisiert! Dass Preußen ein deutsch-polnischer Staat war, in dem der polnische Teil der Bevölkerung mitnichten freiwillig dabei war; dass Preußen politisch eine ziemlich reaktionäre Veranstaltung war trotz der Aufklärung und einzelner großer Persönlichkeiten; dass das berühmt-berüchtigte Krautjunkertum jeden Anflug von Demokratisierung und Liberalisierung im Keim erstickte – das alles wird von den Preußenfreunden gern ausgeblendet. Ich muss sagen, dass ich ganz froh bin, dass die ostelbischen Junker alle im Kölner Sozialbau oder sonst wo in Westdeutschland gelandet sind, ich sehe das als eine der ganz großen Veränderungen der jüngeren deutschen Geschichte, die der Bundesrepublik einen wirklichen Neuanfang ermöglicht haben. Ich bin mir nicht sicher, wo wir heute stünden, wenn die Sozialstrukturen von 1914 in der Bundesrepublik nach 1949 noch fortexistiert hätten. Ich nehme an, die deutsche Geschichte wäre doch anders verlaufen. Und dazu gehört auch der Untergang Preußens. Man vergisst, wie Deutschland damals war.
    STERN    Also, die Historiker vergessen es nicht, die können es gar nicht vergessen, das ist schließlich ihr Beruf; außerdem, erlauben Sie mir, erscheint mir Ihr Urteil über Preußen doch etwas zu pauschal.
    FISCHER    Ich bin kein Fachhistoriker und kein Preuße, sondern katholischer Süddeutscher. Lange Zeit wurde Preußen mit guten Gründen verdammt, danach hat man auch die positiven Seiten wiederentdeckt. Ich bin gespannt, wie die Einordnung Preußens im Zusammenhang mit dem hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs 2014 vorgenommen werden wird. Aber noch mal meine Frage, Fritz. Ganz Europa wird sich im nächsten Jahr erinnern, sagen Sie. Aber wird das Thema jenseits der offiziellen Gedenkfeiern und der akademischen Veranstaltungen die Menschen in Deutschland wirklich
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