Gefährliche Ideen
Bei der Originalübung geht es darum, nicht bei der ersten Idee innezuhalten, sondern stattdessen mehrere Möglichkeiten zu bedenken. Daher bittet man die Teilnehmer vielleicht, zehn Ideen statt drei zu notieren. Meine Version ist ein wenig fortgeschrittener. Normalerweise betrete ich den Hörsaal so, als wollte ich eine ganz normale 45-minütige Vorlesunghalten. Dann teile ich meinen Studenten aus heiterem Himmel mit, dass wir einen unangekündigten Test schreiben. Und zwar nicht einfach irgendeinen Test, sondern einen, den sie bestehen müssen, um weiter am Kurs teilnehmen zu können. In den verbleibenden 40 Minuten muss jeder 20 Geschäftsideen notieren und seine Liste auf meinem Schreibtisch ablegen. Ich ergänze dann noch, dass ich den Raum nun für den Rest der Veranstaltung verlassen werde, und wer bei meiner Rückkehr noch keine 20 Ideen vorgelegt habe, habe den Kurs nicht bestanden und könne es im nächsten Jahr wieder versuchen. Und dann gehe ich.
Lustig wird es, wenn ich eine oder zwei Minuten vor dem Fristablauf zurückkehre. Zu diesem Zeitpunkt herrscht im Raum zumeist eine recht angespannte Atmosphäre. Einmal fand ich eine chinesische Studentin vor, die in der ersten Reihe saß und hysterisch weinte. Sie war untröstlich und ich benötigte eine ganze Weile, um sie zu beruhigen. Nach Ablauf der Abgabefrist liegt in der Regel ein umfangreicher Stapel zerknüllten Papiers auf meinem Tisch, das mit zunehmend schlampiger Handschrift beschrieben ist (normalerweise erfüllen 80 – 90 Prozent aller Studenten meine Vorgabe). Zunächst muss ich alle beruhigen, denn natürlich kann ich niemanden nur deshalb durchfallen lassen, weil er oder sie es nicht geschafft hat, sich 20 Geschäftsideen innerhalb von 40 Minuten auszudenken. Anschließend frage ich in die Runde, ob der Sinn dieser Übung allgemein verstanden wurde. Zumeist begegnet mir eisiges Schweigen.
Ein Loblied auf die Kraft eines in Panik versetzten Gehirns
Der Sinn offenbart sich, wenn man die Ideen – oder vielmehr deren Progression – genauer betrachtet. Bereits ein rascher Blick aufein zufällig ausgewähltes Papier des oben erwähnten Stapels lässt erkennen, dass die Verteilung der Ideen einem ganz bestimmten Muster folgt. Die ersten fünf Ideen sind vielfach recht gut, aber konventionell und ein wenig naheliegend. Diese Art von Ideen kann das Gehirn ohne größere Anstrengung ausspucken; sie stellen eine Art Momentaufnahme eines Gehirns dar, das einfach nur Materie ausstößt. Die nächsten fünf Ideen sind schon etwas vage und wirken ein wenig zögerlich. Sie zeigen, dass der Student jetzt weniger selbstsicher ist und zunehmend nervös wird. Die folgenden fünf (Nr. 10 – 15) wirken ein wenig verzweifelt – jetzt geht es ans Eingemachte! Sehr wahrscheinlich wird die Zeit jetzt knapp und das Gehirn hat seinen Ideenvorrat erschöpft, einschließlich jener Einfälle, die es stets als Reserve bereithält. Das Gehirn muss nun seinen Suchhorizont deutlich erweitern und kann sich nicht mehr auf seine üblichen Tricks verlassen.
Die letzten fünf Ideen (Nr. 16 – 20) sind diejenigen, die mich am meisten interessieren, denn sie zeigen, wozu der Verstand fähig ist, wenn er dazu gezwungen wird, loszulassen und die Verteidigung seiner geheimen Schubladen aufzugeben. Das Gehirn, durch eine starre Frist an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit getrieben, wechselt in den Panikmodus und beginnt unbewusst, sein gesamtes Ideenregister zu ziehen. Wer die in diesem Stadium entwickelten Ideen analysiert, wird feststellen, dass nicht alle davon gut sind. Vielmehr sind manche sogar total absurd. Doch sie sind oft auf interessante Weise absurd, und man findet darunter erstaunlicherweise einige überragende Ideen. Denn hier, unter den Bedingungen freier Kreativität, die nicht von Bemühungen um korrektes Verhalten oder Legitimität im Zaum gehalten wird, können Ideen ihren üblichen Entfaltungsraum überwinden. Das Gehirn vermag hier nicht mehr aus seinen vertrauten Ressourcen zu schöpfen, die ihm helfen, seine gewohnten Grenzen und Schutzmauern zu verteidigen.
Deadline-Fieber
Der gleiche Prozess vollzieht sich, wenn Menschen kurz vor einem Fristablauf bei der Arbeit ein unerklärliches Gefühl der Erleuchtung ereilt, und er erklärt auch, warum Studenten für eine Hausarbeit, die sie innerhalb einiger panikerfüllter Stunden verfasst haben, oft eine bessere Note erhalten als für eine sorgfältig erstellte Arbeit. Sehr wahrscheinlich haben Sie bereits
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