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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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vor dem Haus ihrer Schwester angelangt, einem schönen Altbau. Das Team hat sich zurückgezogen. Ute bittet mich, bei ihr zu bleiben. Sie klingelt. Es passiert nichts. Ute überlegt, dass es ihrer Schwester ja offenbar gut gehen müsse, eine tolle Gegend sei das und ein wirklich schönes Haus. Sie befragt Nachbarn, klingelt nochmals – ohne Erfolg. Sie sucht einen Briefkasten, will eine Nachricht hinterlassen. Schließlich kehrt sie doch noch einmal in das Haus ihrer Schwester zurück. Plötzlich öffnet jemand die Tür. Eine große, gut gekleidete Frau, Mitte 50, lange schwarze Haare, kommt Ute und mir im Hausflur entgegen. Sofort ist klar, wer hier aufeinandertrifft. Nur wenige Momente lang kreuzen sich die Blicke beider Frauen. Claudia bleibt nicht stehen. Sie geht mit ihren Einkaufstüten in den Händen weiter. Ute spricht ihre Schwester an: »Claudia! Du bist doch Claudia!« Claudia hält für einen kurzen Moment inne und sagt dann nur vier Worte: »Nein. Bin ich nicht!« Sie geht weiter, die Treppe zu ihrer Wohnung hoch. Die Tür schließt sich. Es ist die Tür der Wohnung, an deren Klingelknopf der Name der Schwester steht. Ute ist fassungslos, und tatsächlich war diese Szene so unwirklich, so irreal, wie auch ich es bis dahin noch nicht erlebt hatte.
    Ute muss erst einmal an die frische Luft gehen, die Schockstarre lösen. Doch dann dreht sie sich plötzlich zu mir um und sagt: »Ich werde noch einmal an ihrer Tür klingeln, klopfen. Das kann doch nicht sein!« Ute geht zurück, entschlossen, aufgeregt. Ich gehe nicht mehr mit, gebe zu bedenken, dass auch Claudia dieses Aufeinandertreffen erst einmal realisieren muss. Ute lässt sich nicht abhalten – sie verschwindet noch einmal im Haus. Das Team ist mittlerweile wieder da und wartet gemeinsam mit mir vor dem Haus auf Ute. Sie kommt nicht. Vielleicht hat Claudia doch die Tür geöffnet, mutmaßen wir. Unsere Kamerafrau hat die Frau mit den langen dunklen Haaren die Straße entlangkommen sehen, und auch sie hat in ihr sofort Utes Schwester erkannt. Die Ähnlichkeit mit der Frau auf den alten Fotos ist offensichtlich und nicht zu leugnen.
    »Unglaublich, wie jemand sich selbst so extrem verleugnen kann«, meint unsere Kameraassistentin sichtlich geschockt. Unsere Kamerafrau gibt zu bedenken, dass Claudia vielleicht nicht mehr die Claudia von damals ist. Sie hat sich ein neues Leben aufgebaut, frei von der Vergangenheit. Auch das ist möglich, überlegt unser TV -Team. Nach einer Weile kommt Ute aus dem Haus ihrer Schwester. Unbeschreiblich traurig sieht sie aus. Claudia hat die Tür nicht geöffnet, hat die Schwester draußen stehen lassen, im Treppenhaus. Sie habe sich auf die Treppe gesetzt, musste einfach mal alleine sein, atmen, nachdenken, auch weinen, sagt Ute, deshalb habe es so lange gedauert. Es gibt keine in der kleinen Frauenrunde, die das nicht verstanden hätte.
    Wie kann man, auch wenn das Wiedersehen zugegebenermaßen ein Überfall war, auf diese Weise seine Identität verleugnen, frage ich den Psychoanalytiker Udo Rauchfleisch. »Es ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit, so zu reagieren, in diesem Fall sogar eine Schockreaktion. Es ist auch wichtig, dass sich die verlassene Person ein Stückchen in die verlassende Person einfühlt, also nicht zu schauen: Was hat die mir angetan?, sondern auch zu akzeptieren: Es ist halt so, die hat sich zurückgezogen und möchte, dass das akzeptiert wird. Solch ein Überfall kann nicht funktionieren«, erklärt der Fachmann.
    Aber was bleibt dann dem Verlassenen, der Klärung sucht? Was hat er nach einer langen Zeit des Schweigens noch zu verlieren? Warum sollte er Rücksicht auf die Gefühle des Abbrechers nehmen, wo doch der auch keine Rücksicht genommen hat? Ute ist wütend, enttäuscht, sprachlos. Ihre Welt soll jetzt offensichtlich eine Welt ohne Claudia werden. Auf der Rückfahrt nach Hamburg schweigt sie. Vielleicht quält sie die tiefe Angst, dass, wenn es Claudia nicht mehr gibt, auch ihre eigene Existenz in Frage gestellt sein könnte. Ute definiert sich stark über Beziehungen, wird über das »Du« zum »Ich«. In Hamburg wartet Tochter Annika auf den Bericht aus Berlin. Eigentlich mag Ute nicht erzählen. Das war’s. Aus. Ende. »Schluss«, sagt sie zum ersten Mal. Ihre Verzweiflung hat sich erschöpft.
    Die Dominanz des Verlassenen
    Während der Dreharbeiten lernt das Team Lisa-Maria W. näher kennen. Sehr bestimmend ist sie, wie vor allem unsere Kamerafrau erfahren muss. »Sie sehen aber heute
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