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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite
Autoren: David Wellington
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Weile saß sie einfach nur da,
hielt die Knie umklammert und war froh, nicht mehr laufen zu müssen. Dzo schien
sich an ihrer Anwesenheit nicht weiter zu stören, aber er bot ihr auch nichts
zu essen an oder fragte sie, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Chey fror, sie
hatte Hunger und war dem Tod noch nie zuvor so nahe gewesen, aber selbst in
ihrem erschöpften Zustand fragte sie sich, was mit diesem Kerl nicht stimmen
mochte. Sah er denn nicht, wie dringend sie der Hilfe bedurfte?
    »Wölfe«, sagte sie. »Um ein Haar hätten sie mich erwischt. Einer hat
es sogar mehr oder weniger geschafft. Da war dieses Wolfsrudel … es hat mich
verfolgt …«
    »Wölfe?«, fragte er. »Du bist von Wölfen angegriffen worden?« Er
klang, als würde er sie fragen, ob sie auf
dem Weg zu seinem Lager seltene Wildblumen gesehen habe.
    »Ja. Ein ganzes Rudel. Und dann war da dieser eine, dieser wirklich
große …«
    »Keine Sorge«, meinte er. »Ein Wolf greift niemals einen Menschen
an. Nicht einmal hier draußen passiert das, wo sie noch nie zuvor Menschen
begegnet sind. Man sieht einfach nicht wie Nahrung für sie aus. Vermutlich
waren sie bloß neugierig oder wollten mit dir spielen. Das war alles.«
    Ihr Bein bewies das Gegenteil. Andererseits war es kein gewöhnlicher
Wolf gewesen, der sie verletzt hatte. Sie überlegte sich, den Vorfall genau zu
erklären, war sich aber nicht sicher, ob er ihr glauben würde. »Ich weiß, was
ich sah!«
    Das war die beste Verteidigung, die ihr einfiel. Doch ihre Worte
schienen keinen großen Eindruck auf ihn zu machen.
    »Ich nicht. Ich war nicht dabei.«
    Chey schloss die Augen und bemühte sich um souveräne Vernunft, um
unwiderlegbare Logik, die seine seltsame Weigerung, die Geschehnisse
anzuerkennen, zunichtemachte. »Sehen Sie …«, sagte sie und wusste
erst einmal nicht weiter. »Es spielt keine … es spielt keine Rolle, was ich
sah. Ich habe mich trotzdem verlaufen.«
    »Das ist mir klar«, antwortete er. »Warum solltest du sonst hier
draußen sein?«
    Sie nickte, obwohl sie nicht genau wusste, worauf er hinauswollte.
»Ich stecke in Schwierigkeiten«, fügte sie hinzu. »Ich bin verletzt.«
    Dzo blickte auf, als habe er erst jetzt gemerkt, dass sie mit ihm
sprach. Seine Augen weiteten sich, und er untersuchte ihren Knöchel. Sie hielt
ihn für ihn hoch und sah den Feuerschein auf dem getrockneten Blut am Hosenbein
funkeln. »Oh, Mann«, sagte er schließlich. »Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.
Ich begegne hier oben nicht vielen Fremden. Meine … wie heißt das noch …
Umgangsformen sind ziemlich eingerostet, okay?« Er legte ihr eine Hand im
Fellhandschuh auf die Schulter, und um ein Haar hätte sie sich in dieBerührung
hineingeschmiegt, so dankbar war sie nach der langen Zeit ganz allein im Wald
für menschliche Nähe. Aber die Hand verschwand sofort wieder, um ihr ein
paarmal auf die Schulter zu klopfen. »Na, na«, sagte er und sah wieder weg.
    War er geistig behindert, oder hatte ihn die lange Einsamkeit in den
Wäldern einfach aus dem Gleichgewicht geworfen? Von diesem Mann hing ihr
Überleben ab. Fast wäre sie verzweifelt. Mit ihren Gefühlen ringend, zerrte sie
die Geschichte ans Tageslicht, die Geschichte, die sie so oft erzählt hatte,
dass sie fast schon selbst daran glaubte. »Ich bin von Rae Lakes aus zum
Hubschrauberwandern aufgebrochen. Das Nördlich-vom-sechzigsten-Abenteuerpaket,
verstehen Sie? Die bringen einen so weit nach Norden zum Polarkreis, wie man
will, damit man die echte Wildnis erleben kann, den uralten Wald und so. Die
setzen einen mit ein paar Vorräten mitten im Wald ab, drücken einem eine Karte
in die Hand und sagen einem, wo sie einen wieder abholen. Danach sollten sie
uns für einen Wellnesstag nach Yellowknife
fliegen, bevor es zurück in die Zivilisation gegangen wäre. In den
ersten Tagen war die Wanderung ganz nett. Ich
meine, ich hatte viel Spaß, obwohl es viel zu kalt war. Und plötzlich
war alles die reinste Hölle. Ich wurde vom Rest der Gruppe getrennt. Ich
verirrte mich.«
    Sie schloss die Augen. Hielt sich selbst ein wenig fester. Erzählte
weiter.
    »Ich kletterte dieses Tal hinauf, und plötzlich war da dieses
Wasser. Ich wurde fortgespült, und mein Rucksack war … egal, ein Stück weiter
flussabwärts wurde ich ohne Ausrüstung ans Ufer gespült, ohne jede Möglichkeit,
den Hubschrauber zu kontaktieren, damit er mich abholt. Ich wusste, dass sie
irgendwann nach mir suchen würden, aber dieser Teil der Welt ist einfach
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