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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Autoren: Sabine Appel
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aber doch alle Lust Ewigkeit will, sind dann nicht auch, wie so vieles andere, die vermeintlichen Gegensätze von Lebens- und Todestrieb gar nicht vorhanden, nur Vorurteil? Überall ist der Kreis. Lust und Unlust sind keine Gegensätze. Aber die Kunst – «Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence. Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden, – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehn will, des Tragisch-Erkennenden. Die Kunst als die Erlösung des Handelnden, – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden. Die Kunst als die Erlösung des Leidenden, – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.» (Nachlass-Fragmente, Frühsommer 1888) – Fazit eines Gekreuzigten.
    In seinen ruhigen Stunden in Naumburg, wenn er gerade nicht tobsüchtig war, bat der Kranke die Mutter manchmal, wie diese an Overbeck schrieb, ihm aus der Bibel vorzulesen, Psalmen und anderes. Sie habe Pfingsten mit ihm und der Bibel ganz still auf der Veranda gesessen, berichtete sie. Auch spielte er anfangs noch, wenn er bei Sinnen war, jeden Tag ein bisschen Klavier – unter anderem auch Choräle aus einem alten Choralbuch. Doch der Abbau erfolgte rapide. Irgendwann konnte er infolge von Lähmungserscheinungen und anderen zerebralen Ausfällen nicht mehr selbständig essen, musste gewaschen werden und angezogen. Er wurde zum Pflegefall. Die Medizin dieser Zeit, auch wenn sie sich schon allmählich aufzuspalten begann, ging in ihrem konservativen Strang davon aus, dass Geistesstörungen die Folge eines unmoralischen Lebens und der entsprechenden Gesinnungen seien.
    Als die Mutter Ostern 1897 starb, kam die große Stunde der Elisabeth Nietzsche.

Weimar, 1897–1900
    «Nacht ist es; nun reden lauter alle springenden Brunnen»

 
    M ancher Ruhm speist sich vom Ende her. Manches heroische Leben findet seine dunkle Erfüllung in einem Ausstieg aus dem Kontinuum, worauf sich schließlich der Kreis wieder schließt. Eine Verewigung der besonderen Art. Immer schließt sich der Kreis.
    Die morbide Berühmtheit des Friedrich Nietzsche, vor sich hin dämmernd in seinen letzten bewusstlosen Lebensjahren, ein Pflanzendasein, nach mehreren Schlaganfällen weitgehend an den Rollstuhl gefesselt, ein Märtyrer seiner Denkakte, wie man ihn dann stilisierte, einer, der sich zu weit hinausgewagt hatte und abgestürzt war, der gescheiterte Dionysos, der gekreuzigte Antichrist, vorgeführt vermeintlich auserwählten Besuchern von seiner umtriebigen Schwester, die sofort die Geschichte seines Nachruhms in ihre Hände nahm, wurde so bildhaft und eindrücklich wie wenig sonst in seiner reichhaltigen Zukunftsphilosophie, an der noch ein ganzes Jahrhundert zu knacken hatte und die möglicherweise noch immer hinausweist in eine zukünftige Zeit, die sie sich selbstverständlicher einverleibt als alle bisherigen.
    1980 konnte man jedenfalls mit seinem Spätwerk erheblich mehr anfangen als 100 Jahre zuvor. Man griff sich das Spielerische heraus, nahm alles Abgründige und Gefährliche weg und identifizierte sich mit der auf eigene Weise verstandenen «Freigeistigkeit». Nietzsche war «postmodern». Um 1900 aber, da hatte man noch einen Sinn für Tragödien und für den tragischen Mythos. Die Gartenlaube, die Monumentalbauten, die dorischen Säulen und der immer noch unverwüstliche Historismus in Bismarcks «Reich» standen neben der erfahrenen Dekadenz der Moderne, ihren Untergangsszenarien, ihrer Endzeitstimmung, die den Fortschrittsoptimismus der wilhelminischen Ära konterkarierten. Dieser flächendeckende Ästhetizismus und dieses sonderbare Konglomerat bildeten einen fruchtbaren Nährboden für die Tragödie eines dem Wahn anheimgegebenen Denkers, der in einer Gartenlaube saß, von Kletterpflanzen umrankt, sorgfältig aufgereihte Blumentöpfe vor sich und in einen gewaltigen Rahmen gefasst mit antiken Säulen und Inschriften: ein Monument, gleichsam ein Tempel des gebrochenen Geistes. Wer sie gesehen hat, wird die zeitgenössische Nietzsche-Darstellung
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