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Friedhof der Kuscheltiere

Friedhof der Kuscheltiere

Titel: Friedhof der Kuscheltiere
Autoren: Stephen King
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Septemberluft.
    Ellie warf einen seltsamen, verschüchterten Blick über die Schulter zurück, als wollte sie fragen, ob sich dieser unausweichliche Gang der Dinge nicht vielleicht doch noch aufschieben ließ; doch was sie auf den Gesichtern ihrer Eltern sah, überzeugte sie wohl, daß die Zeit vergangen und alles, was diesem ersten Tag folgte, einfach unvermeidlich war -- wie das Fortschreiten von Norma Crandalls Arthritis. Sie wandte sich von ihnen ab und stieg in den Bus. Die Türen schlossen sich hinter ihr mit einem Geräusch wie das Atmen eines Drachens. Der Bus fuhr an. Rachel brach in Tränen aus.
    »Nicht weinen«, sagte Louis. Er weinte nicht; er war nur nahe daran. »Es ist doch nur ein halber Tag.«
    »Ein halber Tag ist schlimm genug«, erwiderte Rachel mit vorwurfsvoller Miene und weinte noch heftiger. Louis umschlang sie, und Gage legte seine Arme vergnügt um den Hals von Vater und Mutter. Wenn Rachel weinte, weinte Gage normalerweise auch. Aber jetzt tat er es nicht. Er hat uns für sich allein, dachte Louis, und das weiß er ganz genau.
    Sie warteten mit einiger Besorgnis auf Ellies Rückkehr, tranken zuviel Kaffee, überlegten, wie es ihr wohl ergehen mochte. Louis ging in den Raum an der Rückseite des Hauses, der sein Arbeitszimmer werden sollte, räumte ein bißchen herum, bewegte Papiere von einem Platz auf einen anderen, tat aber sonst kaum etwas. Rachel begann viel zu früh mit den Lunch-Vorbereitungen.
    Als viertel nach zehn das Telefon läutete, rannte Rachel hin und gab ein atemloses »Hallo?« von sich, bevor es ein zweites Mal läuten konnte. Louis stand auf der Schwelle zwischen seinem Arbeitszimmer und der Küche. Gewiß war es Ellies Lehrerin, die mitteilen wollte, daß Ellie es nicht durchgestanden hatte; daß der Magen der allgemeinen Schulbildung sie für unverdaulich befunden und wieder ausgespuckt hatte. Aber es war nur Norma Crandall, die anrief, um ihnen zu sagen, daß Jud den letzten Mais geerntet hatte und daß sie ein Dutzend Kolben haben könnten, wenn sie wollten. Louis ging mit einer Einkaufstasche hinüber und machte Jud Vorwürfe, weil er ihn nicht hatte helfen lassen.
    »Das meiste davon ist ohnehin einen Scheißdreck wert«, sagte Jud.
    »Sei so freundlich, dir solche Ausdrücke zu verkneifen, wenn ich in der Nähe bin«, sagte Norma. Sie kam mit Eistee auf einem alten Coca-Cola-Tablett auf die Veranda.
    »Tut mir leid, meine Liebe.«
    »Es tut ihm keine Spur leid«, sagte Norma zu Louis und setzte sich stöhnend hin.
    »Ich sah Ellie in den Bus steigen«, sagte Jud und zündete sich eine Chesterfield an.
    »Sie wird sich wohlfühlen«, sagte Norma. »Das tun sie fast immer.«
    Fast immer, dachte Louis.
     
     
    Aber Ellie hatte sich wohlgefühlt. Am Mittag kam sie, lächelnd und strahlend; ihr neues blaues Schulkleid bauschte sich anmutig um ihre verschorften Schienbeine (mit einer neuen Schramme am Knie), in einer Hand ein Bild, das zwei Kinder darstellen mochte oder auch zwei spazierengehende Kranbrücken, mit einem offenen Schuh und nur noch einer Schleife im Haar, und sie rief: »Wir haben ›Old MacDonald‹ gesungen! Mommy! Daddy! Wir haben ›Old MacDonald‹ gesungen! Genau wie in der Schule in der Carstairs Street!«
    Rachel warf Louis, der mit Gage auf dem Schoß am Fenster saß, einen Blick zu. Der Kleine schlief fast. Es lag etwas Trauriges in Rachels Blick, und obwohl sie sich schnell wieder abwandte, verspürte Louis einen Augenblick lang eine entsetzliche Panik. Wir werden tatsächlich alt, dachte er. Kein Zweifel möglich. Sie hat sich auf den Weg gemacht -- und wir auch.
    Ellie kam zu ihm und versuchte, ihm ihr Bild und ihre neue Schramme zu zeigen und ihm von ›Old MacDonald‹ und von Mrs. Berryman zu erzählen -- alles gleichzeitig. Church wanderte laut schnurrend zwischen ihren Beinen umher, und erstaunlicherweise gelang es Ellie, nicht über ihn zu stolpern.
    »Pst«, sagte Louis und küßte sie. Gage war eingeschlafen, unberührt von der ganzen Aufregung. »Laß mich den Kleinen ins Bett bringen, dann höre ich mir alles an.«
    Er trug Gage durch die warme, schräg einfallende Septembersonne die Treppe hinauf, und als er den Treppenabsatz erreicht hatte, befiel ihn ein solches Vorgefühl des Grauens und der Dunkelheit, daß er stehenblieb -- wie angewurzelt stehenblieb --, sich überrascht umsah und sich fragte, was ihn da überkommen haben mochte. Er faßte den Jungen fester, preßte ihn an sich, und Gage regte sich unbehaglich. Louis spürte
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