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Freiheit

Freiheit

Titel: Freiheit
Autoren: Joachim Gauck
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Wir konnten das alles nicht. Ich suchte umso dringlicher nach einem adäquaten Wort und kam schließlich darauf, dass wir »Insassen« seien: festgehalten und eingeschlossen wie die Insassen eines Pflegeheimes, einer Krankenanstalt, einer geschlossenen Station, eines Gefängnisses.
    Und weil ich diese Vorstellung so bedrückend, beklemmend und entwürdigend fand, rettete ich mich, wie viele andere Menschen, wenn sie Bücher schreiben oder lesen, aus der Wirklichkeit in die Gedankenwelt.
    Die Freiheit war nicht dort, wo ich lebte. Die Freiheit war in meinen Sehnsüchten, in meinen Gedanken. Hier wurde sie stark. Und wie viele Deutsche vor mir tröstete ich mich mit dem alten Volkslied:
    »Die Gedanken sind frei,
    wer kann sie erraten?
    Sie fliehen vorbei
    wie nächtliche Schatten.
    Kein Mensch kann sie wissen,
    kein Jäger erschießen
    mit Pulver und Blei:
    Die Gedanken sind frei!«
    Das ist es, was der Deutsche glauben kann: »Die da« mögen uns unterdrücken, aber in mir gibt es ein Reich der Freiheit. Diese Vorstellung wärmte uns eine Zeit lang, machte uns aber politisch nicht satt.
    Und so war das Besondere eigentlich die zweite Etappe nach 1989, als die Freiheit gekommen war und die Frage entstand: Und du, wozu bist du imstande, wofür willst du dich einsetzen? Wie willst du Freiheit gestalten?
     

Verantwortung
    Ein Jahr etwa nach der friedlichen Revolution kam ich einmal wieder in meine Heimatstadt Rostock. Ich war zu dieser Zeit schon nicht mehr Pfarrer, sondern im politischen Raum tätig. Da kam ein ehemaliger Amtsbruder und beklagte sich: »Du glaubst nicht, wer jetzt alles in die Ämter drängelt. Also erstens die alten Genossen und zweitens die Katholiken.« Gegen die Katholiken habe er zwar nichts, nur hätten sie früher ein bisschen deutlicher aufbegehren können. Und die alten Genossen, die seien, wie sie gewesen waren. Er empfand Widerwillen gegen die neue Situation. Doch ich zeigte kein Verständnis, fragte vielmehr: »Lieber Freund, hast du denn selbst den Finger gehoben, als es um die Ämter ging, auf denen jetzt die sitzen, deren Anwesenheit du beklagst?«
    Auf die Idee war er nicht gekommen: Er sei bereit, Macht kritisch zu beäugen und zu kontrollieren. »Aber selbst Macht ausüben?« Dazu sei er gar nicht ausgebildet. Und hätte Macht nicht immer einen schlechten Beigeschmack?
    Da war es, dieses merkwürdige Unvermögen, aktiv zu werden, wenn aus der Sehnsucht nach Freiheit die Gestaltung von Freiheit wird, wenn wir Freiheit von etwas schon erleben durften, aber Freiheit zu etwas noch nicht können. Plötzlich füllen dann diejenigen die öffentlichen Räume, denen wir gar nicht oder nur wenig vertrauen.
    Das galt besonders für die Vertreter der alten Macht. Die waren natürlich Machtausübung schon gewöhnt und hatten Ellbogen. Und die westdeutschen Ellbogenmenschen konnten ganz gut mit jenen sprechen, die ihre Ellbogen schon in der Diktatur trainiert hatten. Besonders im Bereich der Wirtschaft klappte das Zusammenspiel hervorragend. Es waren oft nicht die Dissidenten, die als vertrauenswürdig galten und Posten übertragen bekamen. Es waren die, die schon gezeigt hatten: Wir wissen, wie man Macht ausübt. Die traten übrigens nie einer Gewerkschaft bei, sondern folgten den Aufträgen ihrer neuen Herren, wie sie denen ihrer alten gefolgt waren.
    Zu üben ist also nicht eine Fähigkeit, die wir mühsam studieren müssen, zu üben ist die Bereitschaft, Ja zu sagen zu den vorfindlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Mitgestaltung. Wenn wir uns derart zu der in uns wohnenden Fähigkeit und zu der uns umgebenden Wirklichkeit verhalten, dürfen wir dies als Verantwortung bezeichnen. Ich nenne die Freiheit der Erwachsenen »Verantwortung«.
    Wenn ich für Freiheit als Verantwortung werbe, gerade bei Menschen, die nicht in politischen Ämtern stehen, mache ich das so: Wir können das eigentlich alle. Denn wir alle haben ein natürliches Empfinden für eine Aufgabe oder kennen die Hingabe. Schon bevor wir politisch werden, lernen wir, dass es möglich ist, die Bezogenheit auf das eigene Selbst hintanzustellen.
    Wir alle haben dies erlebt, wenn wir einen anderen Menschen lieben. Mit einem Mal bin ich mir selbst nicht mehr der Wichtigste, sondern will alles tun für den geliebten Menschen, für diese Frau, für diesen Mann. Am deutlichsten erleben wir das wohl, wenn wir ein eigenes kleines Kind haben. Ich sehe es an, und schon erwachen in mir das Bedürfnis und die Bereitschaft, für dieses
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