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Ferien vom Ich

Ferien vom Ich

Titel: Ferien vom Ich
Autoren: Paul Keller
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ist der Amtsrichter, den Pfarrer und Sanitätsrat beide für überflüssig halten; denn außer dem Schneider Hampel wird in Waltersburg niemals jemand eingesperrt, und bei Hampel kommen in mageren Jahren höchstens drei Wochen heraus. Der Amtsrichter und der Schneider Hampel stehen auf dem »Grüßfuß«, und der Sanitätsrat behauptet, daß der Richter seinem einzigen »Kunden« immer zu Neujahr gratuliere. Es ist also für einen, der eine Sinekure sucht, nicht verlockend, Arzt oder Richter in Waltersburg zu werden. Im Herzen wäre es mir aber immer noch lieber, mich in Waltersburg niederzulassen, als nach Neustadt zu gehen, dessen Wunderquellen ich nicht traue, und mich also dort gewissermaßen mitschuldig zu machen, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Heute war ich drüben in Neustadt. Während der fünf Jahre meiner Abwesenheit ist der Ort um das Doppelte gewachsen. Er ist mit amerikanischer Rapidität emporgeschossen. Ich sah die Marmortempel über den »Sprudeln«, die »Promenade« mit ihren unendlich gepflegten, unendlich bunten und unendlich langweiligen Blumenanlagen, die Kapelle, die das »Polnische Lied«, den »Einzug der Gäste auf der Wartburg«, das »Frühlingslied« von Mendelssohn, den neuesten Wiener Walzer und ein unendlich albernes Potpourri spielte, das von allen Darbietungen dem Publikum am besten zu gefallen schien, sah auch, wie der erste Geiger und der Flötist an der Rampe des »Musikpavillons« wie überall mit den vorbeiflanierenden Mägdelein liebäugelten; ich sah auf den Estraden leerer Restaurants Kellner lauern, die wie die Bräutigame gekleidet waren oder wie Leichenbitter, fünfunddreißig Gerichte auf ihrer Speisekarte, von denen sicherlich nicht eines halb so gut schmeckte wie das, was Mutters alte Köchin bereitet; ich sah eine »Wandelhalle« mit Schauläden, in denen die schönen und ach so »preiswerten« Broschen prangen, die man den Dienstmädchen als »Mitbringe« schenkt und deren Goldglanz mindestens anhält, bis das Mädchen am nächsten Quartal abzieht, sah schreiend bunte Gläser mit der Aufschrift »Zum Andenken« oder »Souvenir de Neustadt«, Holzarbeiten vom geschnitzten Hirsch bis zu dem Kinderspielzeug, wo zwei Bären auf einem Amboß pinken und ein Affe am Reck turnt, und noch viele Kunstgegenstände, bis ich zum Theater gelangte, wo ein Zettel verkündete, daß ein vielversprechender Dichter (alle vielversprechenden Dichter debütieren in Badetheatern) sein Erstlingswerk »Geheimnisse von Neustadt« zur Aufführung bringe und Herr Georgio Calzolaio (zu deutsch: Georg Schuster), der vielbeliebte erste Liebhaber der Bühne, die Hauptrolle kreieren werde, auch an diesem Abend sein Benefiz habe. Darauf ging ich in ein Café und trank zwei Kognaks. Ein Zeitungsjunge erschien und schrie mir das neueste Berliner Mittagsblatt ins Ohr; ein Herr am Nebentisch, der schon immerfort nervös hin und her zappelte, knurrte den Kellner an, wie lange er, zum Donnerwetter, noch auf die telefonische Verbindung mit Breslau warten solle; ein Herr an einem anderen Tisch erzählte mit unerträglicher Weitschweifigkeit seinem Nachbarn alle Erscheinungen seiner Krankheit, wofür sich dieser so interessierte, daß er während der Zeit des Zuhörens das ganze Mittagsblatt durchschmökerte; drüben an der Wand stritten zwei rote Köpfe laut über Nietzsche; eine vorübergehende Mutter machte ihrer bleichsüchtigen Tochter Vorwürfe, daß sie ihren Brunnen statt um fünf erst um fünfein-
    halb Uhr getrunken habe, was natürlich furchtbar schaden könne; Gents und noch mehr Pseudogents tänzelten vorüber, und in der Kapelle drüben blies der Waldhornist zum Herz- und Steinerweichen: »Das Meer erglänzte weit hinaus im lichten Abendscheine.«
    »Auch Sie, Fräulein Trude«, hörte ich einen vorbeiwandelnden Primaner zu seiner sechzehnjährigen Begleiterin sagen, »haben mein Herz vergiftet, zwar nicht durch Ihre Tränen, wohl aber durch Ihr Lachen.«
    »Aber, Herr Lempert«, sagte sie, und sie waren vorbei. Ich bekam Heimweh nach Waltersburg und ging. Draußen auf den Promenadengängen das gewohnte Publikum: der Herr in dem hocheleganten weißen Flanellanzug, der 75 Mark gekostet hat; der »Künstler«, dessen Kraft wie bei Samson in der Fülle der Locken sitzt und der sich vor dem Spiegel die wirkungsvollen Gerhart Hauptmannschen Mundwinkel eingeübt hat; das knurrende Eheoberhaupt, das woanders hinstrebt, weil man auf dem Kurplatz nicht rauchen darf (warum, weiß weder er
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