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Fenster zum Zoo

Fenster zum Zoo

Titel: Fenster zum Zoo
Autoren: Carola Clasen
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können, als sollte ihm sein Neuanfang so leichter gemacht werden. Ein Bein in der Vergangenheit und eines in der Zukunft, ein fast unmöglicher Spagat. Er hätte besser einen richtigen Schnitt machen sollen, zwischen seinem alten und seinem neuen Leben.
    Nicht alles ließ sich planen.
    »Vielleicht lass ich alles, wie es ist«, hörte er Kraft sagen.

20. Kapitel
    Noch in derselben Nacht flog ein rot gepunkteter, honiggefüllter Kinderball in das Revier des Grizzly. Er rollte über den Boden und blieb an einem Felsbrocken hängen.
    Träge kroch der Grizzly nach einer Weile aus seiner Höhle. Muschalik sah seinen riesigen Schatten suchend durch das Gehege streifen. Er grunzte und schnaufte, er hatte Witterung aufgenommen und folgte der Spur. Als er auf den Ball stieß, nahm er ihn zwischen beide Tatzen und drückte eine ordentlich Portion der klebrigen Köstlichkeit heraus. Der Ball gab mit blubbernden Geräuschen die zähe Flüssigkeit von sich. Dann wurde der Bär wild, raste vor Wonne und tobte mit dem Ball durch sein Revier. Er nieste und schnaubte und war ganz irre vor Freude über das nächtliche Dessert. Noch nie hatte Muschalik den Grizzly so beweglich und übermütig gesehen. Als der Ball ins Wasser rollte, warf er sich ohne zu zögern in die Wellen und rettete das kostbare Gefäß an Land.
    Muschalik sah sich um. Gegenüber auf der Riehler Straße leuchtete die Weltkugel des H.A. Schult. In einigen Fenstern auf der Stammheimer Straße brannte Licht. In dieser Ecke von Köln gibt es kein Nachtleben, auch nicht in einer Samstagnacht. Aber irgendjemand ist immer wach. Im nächsten Augenblick löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit. Sie stand plötzlich neben ihm, er hatte ihre Schritte nicht gehört.
    »Ich bin froh, Sie zu sehen«, sagte er erschrocken und erleichtert zugleich, »wo waren Sie nur die ganze Zeit?«
    »Tagsüber am Rhein und nachts hier«, sagte sie.
    Und als er ihr von den Nachtwachen erzählte, sagte sie: »Ich weiß.«
    »Sie haben uns beobachtet?«
    »Ich war in seiner Höhle.«
    »Sie haben in seiner Höhle geschlafen?«, fragte Muschalik entsetzt.
    »Ja, natürlich.«
    Muschalik fand es absolut nicht natürlich, in einer Grizzly-Höhle zu schlafen. Da würde er lieber unter den Rheinbrücken nächtigen oder auf der Domplatte, überall. Nur nicht Seite an Seite mit einem über 400 Kilogramm schweren Koloss, der nicht gut sehen und hören kann. Und der manchmal aus Versehen Menschen tötet.
    »Wie lange kennen Sie Kaspar schon?«, fragte Muschalik.
    Sie stolperte nicht über den Namen Kaspar.
    »Seit über zwölf Jahren.«
    »Der Ball ist mit Honig gefüllt«, erklärte er stolz und hoffte, dass sie fragen würde, wie ihm das gelungen sei, aber er wartete umsonst.
    »Er liebt Honig.«
    »Dann ist es wirklich wahr?«
    Vielleicht, weil Bewunderung in seiner Stimme lag oder vielleicht, weil das Vertrauen, dass sie vor dem Unglück zu ihm gefasst hatte, noch nicht ganz verloren war, begann sie zu erzählen. »Ja. Ich habe Jonny und Kaspar in der Nacht zum 19. Juli ausgetauscht.«
    »Ganz einfach.« Muschalik lächelte ihr aufmunternd zu.
    »Ganz einfach war es nicht, ich musste aufpassen, dass sich die Grizzlys nicht begegneten. Es sind beides männliche Tiere, gleich alt, gleich stark. Sie hätten sofort einen Kampf begonnen, und ich hätte sie nicht mehr auseinander bekommen. Ich sperrte Kaspar zuerst in seine Höhle, bevor ich Jonny in sein neues Gehege ließ, damit sie sich nicht treffen konnten.«
    »Und der Fahrer?«
    »Der machte sich auf den Heimweg.«
    »Und Ben Krämer?«
    »Er hat dort oben auf der Mauer gestanden, als ich mit Kaspar zurückkam. Er stand da mit seiner Kamera und machte Fotos von ihm und mir. Vielleicht hat er auch vorher schon da gestanden. Ich weiß es nicht. Ich habe mich nicht umgesehen. Ich habe so getan, als hätte ich ihn nicht gesehen. Ich habe Kaspar in sein neues Gehege gesperrt und wollte gehen. Plötzlich ist Ben Krämer zusammengesackt. Ohne Grund, er stand ganz sicher vorher, er stolperte nicht, er verlor nicht das Gleichgewicht. Er sackte nur zusammen und fiel kopfüber ins Bärengehege. Er schrie nicht einmal. Es gab nur ein dumpfes Geräusch, als er auf dem Boden aufschlug. Kaspar war nervös von der Reise. Er hat sich auf ihn gestürzt. Es ging alles ganz schnell.«
    Nelly sprach langsam und abgehackt, als koste jeder Buchstabe sie Überwindung, und jeder angefangene Satz schien ein Berg, den sie bezwingen musste.
    »Aber da war er wahrscheinlich
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