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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition)
Autoren: Daniel Kehlmann
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zweites Mal, ein drittes. An Arthur war keine Veränderung wahrzunehmen. Er stand wie zuvor, gerade, den Nacken ein wenig nach hinten geneigt. Kein Laut war zu hören. Zögernd drehte er sich um und stieg die Treppe hinunter. Allmählich begann da und dort zaghaftes Klatschen, aber erst als Arthur seinen Sitz erreicht hatte, schwoll es zu donnerndem Applaus. Lindemann verbeugte sich und zeigte auf Arthur. Der tat es ihm mit leerem Lächeln nach und verbeugte sich auch.
    Das sei das Schöne an seinem Metier, sagte Lindemann, als wieder Stille eingekehrt war. Nie wisse man vorher, was der Tag bringen werde, nie ahne man die Herausforderungen, die auf einen zukämen. Nun aber endlich der Höhepunkt, das Beste, das Glanzstück. Mit einer leichten Berührung an der Schläfe weckte er die schlafende Frau und fragte, was sie erlebt habe.
    Sie setzte sich auf, aber nach ein paar Sätzen nahm die Erregung ihr den Atem. Sie keuchte, schluchzte, schnappte nach Luft. Unter Tränen sprach sie von einem Dasein als Bäuerin im Kaukasus, einer schweren Kindheit in Winterkälte, sie sprach von ihren Brüdern und Schwestern, ihrem Vater und ihrer Mutter, ihrem Mann, den Tieren, dem Schnee.
    «Können wir gehen?», flüsterte Iwan.
    «Ja, bitte», sagte Eric.
    «Warum?»
    «Bitte», sagte Martin. «Bitte, gehen wir! Bitte.»
    Als sie aufstanden, ging ein boshaftes Kichern durch den Saal. Eric ballte die Fäuste und stellte sich vor, dass er sich all das nur einbildete, während Martin zum ersten Mal begriff, dass Menschen ohne Grund schadenfroh sein konnten, hämisch und gemein. Sie konnten auch ohne Grund gut, freundlich und hilfreich sein, beides ganz in einem. Vor allem aber waren sie gefährlich. Diese Erkenntnis sollte ihm bleiben, immer verbunden mit der Erinnerung an das Gesicht Lindemanns, der von der Bühne herab ihrem Aufbruch zusah, während er mit dem grünen Tuch seine Brille putzte. Genau in dem Moment, da Martin als Letzter hinausging, traf ihn sein Blick: die Brauen hochgezogen, lächelnd, im Mundwinkel feucht die Zunge. Schon hatte sich mit feinem Klicken die Tür geschlossen.
    Die ganze Rückfahrt über klopfte Arthur aufs Lenkrad und pfiff dazu. Martin saß sehr gerade neben ihm, Iwan starrte aus dem einen Fenster, Eric aus dem anderen. Zweimal fragte Arthur, was sie denn nur gestört habe, warum sie hätten gehen wollen und wieso in aller Welt Kindern immer alles peinlich sei, aber als keiner antwortete, sagte er bloß, dass er manches nie verstehen werde. Diese Frau, rief er, die alberne russische Bauerngeschichte, viel zu dick aufgetragen, eindeutig eine Mitarbeiterin des Hypnotiseurs, kinderleicht durchschaubar, wer solle denn so etwas glauben! Er schaltete das Radio ein, dann gleich wieder ab, dann wieder ein, und dann, nach einer kurzen Weile, wieder ab.
    «Habt ihr gewusst», fragte er, «dass der Kondor höher fliegt als alle anderen Vögel?»
    «Nein», sagte Eric. «Wusste ich nicht.»
    «So hoch, dass er von der Erde aus manchmal nicht mehr sichtbar ist. So hoch wie ein Flugzeug. Manchmal so hoch, dass der Weg hinauf kürzer ist als hinunter.»
    «Was soll das heißen?», fragte Iwan. «Wohin hinauf?»
    «Na, hinauf eben!» Arthur rieb sich die Stirn. Für einige Sekunden fuhr er mit geschlossenen Augen.
    «Verstehe ich nicht», sagte Martin.
    «Was gibt es da zu verstehen! Sag mir lieber, wie es dir in der Schule geht, du erzählst ja nie etwas.»
    «Alles gut», sagte Martin leise.
    «Keine Probleme, keine Schwierigkeiten?»
    «Nein.»
    Arthur schaltete das Radio ein und wieder aus. «So!», rief er. «Aussteigen.»
    Martin, Eric und Iwan blickten sich überrascht an. Jetzt erst bemerkten sie, dass sie vor Martins Haus waren.
    Martin stieg aus.
    «Wir auch?», fragte Iwan.
    «Natürlich.»
    Unschlüssig stiegen die Zwillinge aus, nur Arthur blieb sitzen. Eric blickte auf seine Schuhe hinunter. Eine Ameise folgte einer Ritze im Asphalt, ein grauer Käfer kreuzte ihren Weg. Tritt auf den Käfer, sagte eine Stimme in seinem Kopf, tritt auf ihn, tritt schnell auf den Käfer, dann wird vielleicht alles noch gut. Er hob den Fuß, aber dann senkte er ihn wieder und ließ den Käfer am Leben.
    Arthur kurbelte das Autofenster herunter. «Alle meine Söhne.» Er lachte, kurbelte das Fenster hoch und trat aufs Gaspedal.
    Die drei sahen zu, wie der Wagen sich entfernte, kleiner wurde und um die Ecke verschwand. Eine Weile sprach keiner.
    «Wie kommt man weg von hier?», fragte Iwan schließlich.
    «Fünf Straßen
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