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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Autoren: Francesca Melandri
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aufrechtzuerhalten. So kam es, dass aus den Fenstern des Hauses, in dem Hermann seinen ersten Sohn gezeugt hatte, nun nicht nur die Gerüche von Tomatensoße drangen, sondern auch eigenartige Laute, wenn Ruotolos beleibte Frau die Kinder zum Essen herbeirief und aus voller Kehle Salven endbetonter Worte abfeuerte: ›Pepè! Ueuè! Totò!‹ , so klang ihr neapolitanischer Dialekt in den Ohren der Südtiroler.
    Die Ruotolos blieben also in diesem Haus wohnen, und die Hubers hatten keine andere Wahl, als nach Schanghai zu ziehen. So nannte man, durchaus nicht wohlwollend gemeint, jene Ansammlung von Häusern an einem Hang im Schatten der mittelalterlichen Burg, die man jenen Familien zugewiesen hatte, welche nach dem Krieg zurückgekehrt waren, um wieder hier zu leben: »Rücksiedler«, dies war nun das schlimmste Schimpfwort, für die Hubers und die anderen heimgekehrten »Optanten«. Denn plötzlich schienen die Südtiroler vergessen zu haben, dass sie zur Zeit der Option fast alle bereit gewesen waren, nach Deutschland zu ziehen, und nur deshalb hier ausgeharrt hatten, weil der Krieg ausgebrochen war, und dass für die eigentlichen »Dableiber«, die sich gewehrt hatten, damals niemand eine Hand gerührt hatte. Aber die vielen, die auf dem orangefarbenen Formular das ›Ja‹ angekreuzt hatten, nannten nun die wenigen, die tatsächlich fortgezogen waren, »Heimatverräter«. Und für dieselben Leute, die bei der Verabschiedung von Hermanns Familie Hakenkreuzfahnen geschwenkt hatten, war er nun ein elender Schurke. Hermann nahm es hin, aber der dumpfe Druck, der ihm die Brust einschnürte, seit er sich damals als elfjähriges Waisenkind vollgepinkelt hatte, wurde nun noch stärker.
    Schanghai lag über einen Kilometer vom nächsten Laden entfernt und fast zwei vom Zentrum der Kleinstadt, deren Einwohner darauf bedacht waren, die »Rücksiedler« auf Abstand zu halten. Es war eine Ansammlung niedriger Häuser, die mit einem grauen Gemisch aus Zement und Kies verputzt waren. Hinter dem Berg, der sie überragte, verschwand im September die Sonne; sie tauchte erst im Mai wieder auf. Bei Gewittern ergossen sich die Wassermassen von der Provinzstraße bis in die Häuser hinein, und selbst im Sommer wollte die Wäsche einfach nicht trocken werden. Wer in Schanghai wohnte, galt als arbeitsscheu, unzuverlässig und kommunistisch.
    Ein anderer Name für Schanghai war »Hungerburg« oder auch »Revolverviertel«, weil Polizisten, Gebirgsjäger und Carabinieri kamen und gingen. Als man Gerda Jahre später häufig in Begleitung eines Italieners in Uniform sah, sagte so mancher:
    »Kein Wunder, wenn man in Schanghai aufgewachsen ist …«
    Peter war elf Jahre alt und hatte keinen Freund. Seine Kindheit hatte er anderswo verbracht und sprach deshalb mit einem seltsamen bayerischen Akzent, denn so weit fort waren die Hubers gar nicht gewesen. Nun aber erlaubte es keine Mutter ihrem Sohn, zum Spielen zu ihm zu gehen – nach Schanghai. Die Klassenkameraden quälten ihn, und wenn er sich beklagte, mein ten sie nur: »Wenn’s dir hier nicht gefällt, kannst du ja wieder gehen. Keiner hat euch gebeten zurückzukommen.« Seine Schwester An nemarie war schon alt genug, um bei der Hausarbeit zu helfen, Gerda war noch ein Säugling. Während der letzten Bombenangriffe in München war ihrer Mutter Johanna die Milch weggeblieben. Doch Gerda lernte früh, mit nicht einmal vier Monaten, Knödel zu verdauen, und überlebte. Schon da war klar zu erkennen, dass sie ihrer Mutter nicht ähnelte.
    Johanna war noch nicht alt: so um die dreißig, denn sie hatte schon mit achtzehn geheiratet. Hässlich war sie nun auch nicht, aber sie schien sich zu schämen, überhaupt auf der Welt zu sein. Vielleicht war der Krieg daran schuld, vielleicht auch die Tatsache, dass ihr Mann seit ihrer Rückkehr nicht mehr mit ihr sprach.
    »Ostfront«, knurrte Hermann nur, wenn er doch einmal gefragt wurde, wo er gekämpft habe, und fügte kein Wort mehr hinzu.
    Gerda wuchs heran; Peter und Annemarie hatten die dunklen Augen ihrer Mutter geerbt, während die ihren hellblau und länglich wie die ihres Vaters waren, und sie hatte hohe, majestätisch wirkende Wangenknochen. Johanna hingegen wurde von Tag zu Tag krummer und sah doppelt so alt aus, wie sie tatsächlich war. Als stünde diesem Haus nur eine begrenzte Menge Lebenssaft zur Verfügung, und der sei nicht mehr der Mutter zugedacht, sondern allein noch der jüngsten Tochter. Und zu Gerda strömte er mit aller
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