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Esswood House

Esswood House

Titel: Esswood House
Autoren: Peter Straub
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Tränen des Zweifels ausbrach. Am nächsten Tag stellte sie eine untypische Sanftmütigkeit zur Schau und gab sich wortkarg, als er nach dem Unterricht in ihr Apartment zurückkehrte - eine fleischgewordene Entschuldigung.
    Als er sagte, daß er der Einladung für ihre gemeinsame Zukunft und das Wohlergehen des Babys Folge leiste, sagte sie: »Tu nicht so, als ob du meinetwegen gehen würdest.« In den letzten Semestermonaten changierte Jean zwischen einer unterwürfigen, trügerischen Zustimmung zu seinen Plänen und einer in zunehmendem Maße heftigeren Ablehnung. Im Juni weinte sie jedesmal, wenn einer von ihnen seine Reise erwähnte. Es sei unmöglich, daß er ginge - gerade jetzt. Es gäbe andere Colleges als Zenith. Er mochte Zenith nicht einmal. Und selbst wenn kein anderes College ihn einstellte, bliebe nicht die Möglichkeit einer High School?
    Und wenn ich dieses Kind verliere? Begreifst du nicht, daß das nicht auszuschließen ist?
    Manchmal betrachtete Standish im Lauf dieser Wochen seine aufgedunsene Frau, deren Haar feucht und unordentlich um das gerötete Gesicht herabhing, und fragte sich, wer sie war, wen er da geheiratet hatte. Er erinnerte sie daran, daß sie gesund war und er drei Wochen vor der Geburt wieder hier sein würde.
    Sicher nicht , sagte sie. Ich weiß es. Ich werde allein im Krankenhaus liegen und sterben.
    Wenn es so schlimm ist, sagte er schließlich zu ihr, schreibe ich Esswood und teile ihnen mit, daß ich wegen häuslicher Probleme nicht kommen kann.
    Du glaubst, ich setze dich unter Druck, du bist so ein Schwächling, du verstehst nicht, du erinnerst dich nicht.
    Was verstehe ich nicht?
    Dieses Baby ist real. Real! Ich werde dieses Baby bekommen! Weißt du ganz sicher, daß es ein Esswood gibt? Wie kannst du so sicher sein, daß du dort ein Buch schreibst? Zumal, meinte sie, du hier zu Hause nie eines schreiben konntest.
    Erinnerst du dich, erinnerst du dich, erinnerst du dich überhaupt, wozu du mich gezwungen hast?
    Spielt keine Rolle, dachte Standish. In einer oder zwei Wochen bekomme ich den flachen grauen Umschlag mit dem knappen handschriftlichen Text.
    Abends saß er neben Jean. Sie schien sich damit abzufinden. Er erzählte von seinen Vorlesungen, sie sahen fern. Jean kaufte zwei neue Umstandskleider. Sie redete fast ausschließlich über Essen, das Fernsehen und die Bewegungen des Babys in ihrer Gebärmutter. Sie schien zweidimensional zu sein, als wäre sie gestorben und fehlerhaft wiedererweckt worden. Eines Abends nahm er seine Ausgabe von Crack, Whack and Wheel aus dem Regal und machte sich Notizen. Sie gab keine Widerworte, sagte gar nichts und reagierte nicht einmal - seltsamerweise kamen ihm die Gedichte leblos vor, untalentiert und kindisch. Auch sie wirkten wie tot.
    »Ist es dir jetzt wirklich recht, wenn ich gehe?«
    Jean sah sich die Abendnachrichten an, als wäre sie ganz allein in einem leeren Haus.
    »Ich komme zurecht. Ist es nicht immer so?«
    Der graue Umschlag würde nun jeden Tag eintreffen, dachte er, und dieser Charade ein Ende setzen. Die Post wurde dem Fakultätsbüro zwischen fünfzehn Uhr und fünfzehn Uhr dreißig zugestellt, und Standish näherte sich dem Büro jeden Tag nach seiner Vorlesung für die Erstsemester mit einem Gefühl der Niedergeschlagenheit, das ihm wie ein altbekanntes Herzeleid erschien. Kaum war er zur Tür herein, schaute er zu dem Fach mit seinem Namen.
    Nach sechs Arbeitstagen fand er einen grauen Umschlag in dem Fach. Die Absenderangabe lautete Esswood Foundation. Standish sah unwillkürlich zu dem übervollen Schreibtisch, der Jeremy Starger gehört hatte, und der bärtige junge Experte für das achtzehnte Jahrhundert, der ihn jetzt benutzte, schaute stirnrunzelnd zu ihm auf. »Bleiben Sie mir vom Leib, Standish«, sagte er. Standish machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten, und nahm den Umschlag und das Bündel Verlagsprospekte, das seine übliche Post darstellte. Ihn überraschte, wie enttäuscht, fast ängstlich er sich selbst jetzt fühlte. Standish warf die Neuerscheinungsprospekte in den überquellenden Papierkorb der Fakultät und ging mit dem Brief zu seinem Schreibtisch. Ihm war heiß, und er wußte, daß er errötete. Robert Wall hatte ihn entlarvt. Seufzend riß er den Umschlag auf und zog ein Blatt mit sinnlosen Hieroglyphen heraus, in denen er einige Sekunden später die Fotokopie einer Karte erkennen konnte, die ihm die Fahrstrecke vom Flughafen Heathrow nach Beaswick zeigte, wo Esswood lag. Sein
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