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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie
Autoren: Lizzie Doron
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Sachen gepackt und mit einer riesigen Schleife auf den dunklen Locken.
    Dann nahm Mischka mitten im Zimmer Platz. Die Anwesenden drängten sich um ihn, und er, wie in seinen Glanzzeiten, blätterte eine Seite des dicken Albums nach der anderen um, und brachte auf einmal die Vergangenheit zurück.
    Die Wohnung erfüllte der Geist anderer Tage. Die Klänge von Jiddisch und Polnisch kehrten zurück, die Menschen von damals trugen die Kleidung von damals, Witze, Küsse und abgelaufene Geheimnisse schwirrten durch die Räume, Gesichter und Namen von Toten, die schon verblaßt waren, lebten für kurze Zeit wieder auf.
    Während Mischka im Album blätterte, kamen vielen die Tränen, andere beglichen noch offene Rechnungen mit denen, die ihnen von den Seiten entgegenlächelten, aber in die andereWelt gegangen waren, bevor sie ihre Schulden bezahlt hatten. Manche verfluchten die Betrüger, die Wiedergutmachung genommen hatten und aus dem Leben verschwunden waren, und einige kramten auch Kränkungen hervor, die sie in ihren Herzen vergraben hatten und die jetzt, beim Anblick der stummen Fotos, wieder anfingen zu schmerzen.
    Es wurde immer stiller. Nur Guta seufzte und sagte: »Es war einmal eine Familie.«
    Mischka klappte das Album zu, und es war, als verschlösse er damit auch die Vergangenheit. Die Wohnung füllte sich wieder mit den Stimmen der Gäste. Alle unterhielten sich miteinander, sprachen über Rheumatismus und Vergeßlichkeit, sie tauschten Rezepte für Medikamente aus und teilten den anderen mit, wie es ihren wohlgeratenen Kindern ging, wie hoch ihre Rente oder ihre Pension war und wie sie trotz allem das harte Leben ertrugen.
    Obwohl es schon dunkel wurde, fiel es den Trauergästen schwer zu gehen.
    Bevor sie einer nach dem anderen langsam verschwanden, sagte Genia: »Wenn man hier abends aus einem Haus Lachen und Plaudern hört, wenn man hier durch die Ritzen der Fensterläden den Duft von Kaffee und Kuchen auffängt, ist das ein Zeichen, daß wieder einer von uns gegangen ist.«
    Ich schwieg.
    »Du brauchst nicht traurig zu sein«, tröstete sie mich, »wenn jemand von uns geht, ist das ein Anlaß zum Feiern, bei uns tut der Tod weniger weh als das Leben.«

    Ende des sechsten Tages der Schiwa.

Der siebte Tag
    Am letzten Tag der Schiwa, frühmorgens, kam die Nachhut. Ein alter, magerer Mann stieg sehr langsam eine Stufe nach der anderen herauf. Seine Haare waren voll und silbern, er trug einen alten Anzug und eine bunte Krawatte. Ihm folgte eine junge Frau, schlank, mit hellen Haaren und schwarzen Augen.
    »Papa, sei vorsichtig«, sagte sie, als er einen Moment das Treppengeländer losließ.
    Als sie mich bemerkte, sagte Chemda Pschigurski: »Er wollte unbedingt kommen.« Sie wirkte verlegen und musterte mich neugierig.
    Auch ich betrachtete sie genau. Seit 1973 hatte ich sie nicht mehr gesehen, seit sie das Land verlassen hatte. Sie trug ein weißes T-Shirt und Jeans, und um ihren Hals hing eine schwere Kamera.
    »Es tut mir leid, daß wir jetzt erst kommen«, sagte sie. »Ich bin erst gestern aus Amerika angereist.«
    Das Gesicht von Herrn Pschigurski war verschlossen.
    Als sie ins Zimmer traten, erzählte Chemda, daß sie seit dem Jom-Kippur-Krieg in Amerika lebe und viermal im Jahr ihren Vater besuche.
    »Bei diesen Besuchen«, sagte sie, »habe ich deine Mutter in der Bücherei getroffen.« Dann fügte sie hinzu: »Es tut mir leid, daß sie am Schluß so leiden mußte.«
    »Eine intelligente Frau, eine sehr intelligente Frau«, sagte Herr Pschigurski, »und so gebildet.«
    Chemda nahm die Kamera ab und suchte nach einer Stelle, wo sie sie sicher verstauen könnte.
    Herr Pschigurski nutzte die Gelegenheit. »Weißt du, daß meine Chemdale eine berühmte Fotografin geworden ist? In dengrößten Museen Amerikas hängen Fotos von ihr, und sie hat in ihrem Haus in Boston einen ganzen Schrank voller Preise.«
    Chemda errötete. »Papa, genug«, rügte sie ihn.
    »Warum willst du das nicht erzählen?« fuhr er sie an. »Du bist schon groß, du mußt nicht mehr so bescheiden sein. Du hast auch nie etwas über deine Mutter erzählt, du hast niemandem gesagt, daß sie einen Doktor in Chemie hatte.« Er strahlte mich an. »Wir haben uns auf der Universität kennengelernt. Ich war, bevor ich die Leihbücherei hatte, Doktor der Philosophie und Esterke, ihre Mutter, die schönste und begabteste aller Studentinnen.« Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er fügte hinzu: »Erst hier, nach dem Krieg, ist sie
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