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Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman
Autoren: Arno Geiger
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unter dem übergestreiften frischen. Die Pizza mitsamt der Plastikhülle im Backrohr. Eigentlich harmlos. Und trotzdem: beängstigend, grauenvoll kommt ihr das vor, weil anzunehmen ist, daß es schlimmer werden wird. Irgendwann wird Richard fragen, ob Der Wolf und die sieben Geißlein eine Geschichte von Kindsmord ist. So Sachen hat sein Vater gegen Ende gefaselt. Oder er wird, wie Alma es beim Besuch im Seniorenheim erlebt hat, anfangen zu krähen, wenn ein Gockel im Fernsehen es vormacht. Abwarten, das wird gewiß noch geboten. Früh genug. Unruhig dreht sie sich im Bett. Nach mehreren unbefriedigenden Versuchen, eine bequemere Lage zu finden, bleibt sie halb auf dem Bauch liegen, den rechten Arm abgewinkelt oberhalb des Kopfes, den linken quer über der Brust, die Finger rechts an Hals und Ohr, die Decke zwischen den Beinen, damit die Schenkel einander nicht berühren. Almas Kopf liegt wangenseitig am Bettrand, zur Hälfte über der Bettkante, damit das Gesicht etwas von der kühlen Luft abbekommt, die unter dem Bett steht. Einige Minuten noch. Abwarten.
    Dies.
    Es ist der Hochzeitstag von Ingrid, ihrer Tochter, und zugleich der Sterbetag ihrer Mutter. Erst als Alma beim Begräbnis Geburts- und Sterbejahr auf dem provisorischen Holzkreuz eingebrannt sah, begriff sie, daß ihre Mutter fast hundert Jahre gelebt hatte. Hundert Jahre. Muß man sich durchs Gehirn laufen lassen. Almas Mutter sah als Kind, wie ihr Vater, Almas Großvater, neben einer Glaskugel arbeitete, um das Licht zu verstärken, das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Sie spielte am unregulierten Wienfluß im Bereich, wo jetzt die U-Bahn fährt, und nahe beim Karlsplatz ging sie auf dem Weg zur Arbeit über die Elisabethbrücke, die mit den Statuen geschmückt war, die mittlerweile im Arkadenhof des Rathauses stehen. Manchmal erzählte sie von einer Nähmaschine mit Fußantrieb, auf der sie als Mädchen lernen durfte. Damals ein halbes Wunderding. Bis zuletzt holte Almas Mutter voller Stolz ein auf dieser Maschine genähtes Unterkleid hervor, das war, als die Menschen bereits Atombomben geworfen und vom Weltraum aus die Erde gesehen hatten.
    – Es ist arg, seufzt Alma halblaut, als würde es nicht genügen, das zu denken.
    Alma selbst sah, wie der Mistbauer kam. Er läutete mit einer großen Messingglocke, und ihre Mutter lief mit dem stinkenden Mistkübel hinunter und stimmte den Mistbauern, einen primitiven Menschen, mit zwei Zigaretten gnädig, damit er von der Höhe des Wagens den Mistkübel wieder herunterreichte und ihn nicht aufs Pflaster warf. Bong! Sieben Jahrzehnte liegt das zurück oder besser, sieben Jahrzehnte sind seither vergangen, denn liegen klingt, als könne man hingehen und es abholen. Alma wird in diesem Jahr fünfundsiebzig, und Richard feiert demnächst seinen Zweiundachtzigsten. Sie weiß, das kann man unterschiedlich deuten, denn viele würden sich beglückwünschen bei der Aussicht, in diesem Alter noch am Leben zu sein. Aber wenn man es erst einmal bis hierher geschafft und den Achtziger, den andere sich lediglich wünschen, überschritten hat, ist der Gedanke an die, die es schlechter treffen, ein schwacher Trost, denn das eigene Leben wird dadurch nicht leichter.
    Seit Richards Kopf nicht mehr mitmacht, merkt man ihm den Verfall auch körperlich an. Seine Vergeßlichkeit hat den weniger unangenehmen Alterserscheinungen, die längst sichtbar waren, das Charmante genommen und sie in etwas Schrundiges und Krummes verwandelt. Richards Gang ist knieweich und absatzschleifend, und jeder Schritt bedarf einer genauen Beobachtung durch die Augen, als könnte jeder Schritt mittendrin abreißen. Für Richard bezeichnet der Tod keinen Endpunkt mehr, auf den man nach und nach zustrebt, sondern eine Bedrohung in unmittelbarer Nähe, mit der er rechnet, wenn er Pläne schmiedet, die über einen absehbaren Zeitraum hinausreichen. Richard, so er nicht auch das gerade vergessen hat (bei dem vielen, das von seiner Vergeßlichkeit betroffen ist), besitzt ein neu gewonnenes Zeitgefühl für das, was ihm an Zukunft bevorsteht. Als würde für das Errechnen der Jahre, die einem bleiben, eine kindliche Richtlinie gelten: Was sich an einer Hand nicht abzählen läßt, ist eine unbestimmbare Größe und lohnt das Nachdenken nicht. Eins zwo drei vier fünf, wenn es gutgeht, oder zurück, vier drei. Schon nicht mehr ganz so weit weg.
    Alma weiß gefühlsmäßig, daß Richard in dieser Größenordnung denkt. Und obwohl er das Thema beharrlich
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