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Erzaehlungen aus dem Nachlass

Erzaehlungen aus dem Nachlass

Titel: Erzaehlungen aus dem Nachlass
Autoren: Rainer Maria Rilke
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sich.
    *
    Am nächsten Morgen brachten die Tagesblätter lange Besprechungen über M’s Drama. Auf der letzten Seite des Hauptblattes aber war in gesperrten Lettern zu lesen: »Wie uns eben von S. telephoniert wird, ist der große M. heute nachts einem Schlaganfalle erlegen. Diese jähe Trauerkunde wird allenthalben Schrecken und Theilnahme hervorrufen. Die Ärzte, welche nurmehr den Tod des greisen Meisters constatieren konnten, meinten, dass gerade die freudige Erregung des gestrigen Abends dem Verewigten gefährlich geworden. Wie wir vernehmen blieb M… nach der Vorstellung noch im Kreise seiner Familie bis gegen Mitternacht und sprach freudig über den Erfolg seines Werkes; wer hätte geahnt, dass es sein letztes sein werde – »Der Dreiklang«. – *
    Ende.

Was toben die Heiden? …
    (Psalm II.)
    Die frühe Dämmerung des Märzabends lastete auf den Straßen der Vorstadt. Das kalte, graue Zwielicht ließ die schmutzigen Façaden der hohen Wohnkasernen noch widerlicher erscheinen, und hie und da beleuchtete schon eine trübe Laterne den kothigen Gangsteig. Aus den Gewölben der Krämer, die ihre Waren unordentlich vor der Thüre ihres Ladens aufgestellt oder aufgehangen hatten, stieg ein feuchter dumpfiger Geruch, der vor jedem Verkaufsraum – je nach der Art der feilgebotenen Dinge wechselte oder in einen anderen zerfloss. – Halbnackte Kinder spielten in schmutzigen, zerfetzten Hemden vor den Hausthüren, und schleppten an Schnüren unförmige Holzstücke hinter sich her, die die Rolle von Pferdchen vertreten mussten, während die etwas älteren Buben den keilspitzen Kreisel mit kleinen Peitschen unter ekelhaftem Geschrei bis in die Mitte der Straße schleuderten. Mitten dazwischen fuhren schwere Lastwagen, mit Eisenschienen beladen, mit zwei Paar elenden Pferden bespannt, rollten müde Droschken dahin, – und hie und da wand sich der protzenhafte Privatwagen eines Emporkömmlings durch, der von seiner Fabrik in die behagliche Stadtwohnung zurückkehrte. Das Rasseln und Dröhnen der Fahrzeuge, das Johlen der Fuhrleute übertönten sehr dumpfe Schläge vom Thurme der Marienkirche. – Und jetzt erklangen von allen Seiten in schrillem Misston die gellenden Farbrikspfeifen, welche den Feierabend verkündeten. Von allen Seiten drängte es jetzt heraus aus den schwarzen Thoren, wo die langen russigen Gänge, aus den rückwärtsliegenden Arbeitshäusern mündeten. Da quoll es hervor, jenes arme, enterbte Geschlecht, dessen dunkles Dasein zwischen Elend und Gemeinheit sich fortquält. Männer, Weiber, halbwüchsige Knaben und Dirnen in den leeren Augen und den auf schwülstigen Lippen den Ausdruck stumpfer Brutalität, unbewussten, geduldigen Elends. Nur auf mancher Männerlippe der höhnische Trotz – halb erloschen – hoffnungslos. – Die Burschen mit den schwarzen Gesichtern mischten sich unter die Dirnen, die in langer Reihe den ganzen Gangsteig einnahmen und stießen sie unter rohen Scherzen her und hin. Die älteren Weiber gingen meist zu zweit, – und die Männer folgten theils allein, theils in Gruppen. Einer unter ihnen hielt ein zerknittertes Zeitungsblatt in der Hand, und schien heftig gestikulierend seiner Umgebung den Inhalt eines Artikels zu erklären. Einige bogen in die abzweigenden Gassen ein und ein großer Theil verlor sich in den Branntweinschenken. – Indessen war es ganz finster geworden. Die Gaslampen warfen ihr müdes Licht auf die Gassen und jede zeichnete auf dem Boden einen ungewissen verschwommenen Kreis. Ein Windstoß machte die Scheiben der Laternen erklirren, und die Flammen zuckten unstät. – Es begann zu regnen.
    *
    Durch eine der einsamsten engen Seitengassen schritt eilig ein Arbeiter. Den Kopf etwas zur Erde geneigt setzte er schwer die Füße auf das unregelmäßige Steinpflaster so, dass die leere Gasse davon widerhallte. Die erloschene Pfeife hielt er im Munde, ohne dass er zu bemerken schien, dass der Knaster nicht brannte. Der Schein einer Laterne huschte über sein Gesicht. Es war sehr ernst. Die Augen starr und ausdruckslos, die Lippen fest zusammengekniffen. Der Weg schien ihm lange. Von Minute zu Minute beschleunigte er seinen Gang. Endlich stand er still. Einen Augenblick holte er Athem. Dann betrat er den engen finsteren Thorweg eines vierstöckigen schmalen Vorstadthauses. Ohne auf eine dicke Frau zu achten, die aus der Thür tretend eine Frage an ihn stellte, stieg er, indem er immer 2 Stufen nahm rastlos 4 Treppen aufwärts. Im Vorraum angelangt, schob er
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