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Erzaehlungen aus dem Nachlass

Erzaehlungen aus dem Nachlass

Titel: Erzaehlungen aus dem Nachlass
Autoren: Rainer Maria Rilke
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die Kinder beiseite, welche den Eingang zu einer der dort mündenden 3 Thüren besetzt hatten und trat ein. – Es war eine kleine dumpfige Stube. Auf einem niedrigen Bett lag ein Weib. Die rohe Kotze war bis an das Kinn hinaufgezogen. Der Kopf mit den müden, verglasten, blauumränderten Augen kraftlos auf dem rothgestreiften Kissen zur Seite gesunken. Die eine Hand war in dem wirren schwarzen Haar vergraben, während die andere krampfhaft und zuckend die Decke zusammenballte und abwechselnd wieder losließ. Um die schmalen, farblosen Lippen schlich ein Zug unsäglichen Leidens und unter den weithervorstehenden Jochbeinen schien der Tod zu kauern. – Der Mann neigte sich zu ihr nieder. »Anna«, flüsterte er weich. – Die Kranke sah ihn groß an. Es lag etwas fremdes, weltfernes in diesem Blick, das ihn erschauern machte. Sie versuchte zu lächeln. Aber nur ein schmerzliches Zucken entstellte die Lippen, dann trat eine starre, regungslose Ruhe in die verhärmten Züge. Der Lichterschein, der aus dem Fenster, das jenseits des schmalen Lichthofes – auf Schrittweite lag, herüberfiel, erhellte den ärmlichen Raum hinlänglich. – Er enthielt nichts, als das breite niedere Bett – einen elenden Stuhl und einen Herd dessen schmutzig graue Kacheln lange keine Wärme ausgestrahlt hatten. – Während der Mann sich seufzend auf dem Stuhl neben dem Weibe niederließ, traten die Kinder leise ein. Marie ein Mädchen von etwan 14 Jahren, das kleine zweijährige Brüderchen auf dem Arme. Sie setzte sich auf den Herd, und ließ den Kleinen mit den harten Brotkrumen spielen, die auf der rostigen Platte lagen.
    Der Vater bemerkte sie nicht. Er hielt die linke Hand des Weibes in der seinen, während die Rechte den Kopf stützte. Er dachte und dachte. Nicht geordnet, wirr und gespensterhaft zog die Vergangenheit durch seine Seele. Er liebte dieses Weib. – Das wusste er. Es war sein Weib. Freilich vor der Kirche nicht und vorm Pfarrer. Aber vor seinem Herzen und vor den – Kindern. Jahrelang lebte er mit ihr. Sie war treu. Sie hatte für ihn gesorgt, ihm Kinder geschenkt und … seine Gedanken verwirrten sich. – Er wusste nur, dass sie jetzt krank war, todkrank, wie der Arzt sagte. – Die Kranke rührte sich – er fuhr empor. Sie stammelte einige unverständliche Worte. Sie sprach im Fieber. – Alles war wieder still. – Hie und da lachte der Kleine wenn es ihm gelungen war aus dem harten Brote ein Thor herzustellen. Vom Hof herauf scholl das Kreischen weiblicher Stimmen. Stille. – Er hörte die raschen, pfeifenden Athemzüge seines Weibes. – Und er hob den Kopf und blickte sie an. Der Lichtstrahl von drüben fiel just auf ihr Gesicht. Er sah sie wieder jung, frisch, gesund; und heiße sinnliche Liebe erwachte in ihm. Sein Auge lohte. Er drückte die Hand der Todtkranken so fest, dass diese mit leisem Wehruf den Kopf auf die andere Seite wandte.
    Sie musste leben! – Ja warum war sie denn dem Tode verfallen? – Sagte der Arzt nicht selbst kräftige Nahrung … Die dunklen Brauen des Mannes zogen sich dicht zusammen. Weil er ein Bettler war, musste sie sterben. – Nein – das sollte nicht geschehen. – Jetzt vernahm er alles auf einmal. Die ermahnende Stimme des Arztes, das Drohen des Hausherrn, der ihn aus dem Hause jagen wollte, wenn er nicht sofort bezahlte, dazwischen das Ächzen der Kranken und den Jammer der Kinder, die Hunger hatten … Das brach die Kraft des Mannes. Er ließ die Hand des Weibes los und sank starr in sich zusammen. – Aber nur für einen Augenblick. Dann richtete er sich empor. – Gilt ein Leben nicht soviel wie das andere? – Liegt es nicht noch in seiner Macht das theure Weib zu retten? Er braucht sich ja nur Geld zu schaffen … Da draußen, das entlegene Comptoire seines Chefs … Nur der alte Josef schläft dort im Vorraum – Der alte Cadaver leistet keinen Widerstand …
    Er zuckte jäh zusammen. War das Mord? Und sein Blick fiel auf das in furchtbaren Schmerzen sich krümmende Weib, das eben die Augen aufschlug – so flehend, so hilfesuchend. Er riss sich empor. – Es musste geschehen so oder so – Leben für Leben.
    Rauh hieß er die Kinder sich an das Bett der Mutter setzen. – Dann trat er nahe an den Herd. Machte sich dort mit den Flaschen und Töpfen zu thun, und steckte unbemerkt ein scharfes Messer ein. Ein langes, zweischneidiges. Ein anderes ließ er auf dem Rande der Herdplatte liegen. – Die Sperrhaken und verschiedenartigen Schlüssel, so wie einige scharfe
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