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Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)

Titel: Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Autoren: Hans Küng
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Zeit geschenkt, zu lesen, was ich will, Musik zu hören, wann es mir gefällt, mit anderen zu reden, so lange es mir behagt. Und ich freue mich über all die Freundlichkeiten, die ich im täglichen Umgang erfahre, und über die 1000 schönen Dinge, die mir in der Natur oder im eigenen Haus unter die Augen kommen. Und es wird mir weh ums Herz, wenn ich bedenke, dass ich das alles aufgeben soll. Doch:
    »Die Zeit meines Abschieds steht bevor« (2 Tim 4,6). Ich habe noch ausreichend Lebensenergie, aber sie nimmt fühlbar ab. Meine ernsten Gebrechen kann ich nicht heilen, nur in Grenzen halten. Kaum etwas ist wirklich besser geworden, eher schlechter: die Sehkraft der Augen, die Stärke der Stimme, die Beweglichkeit der Finger, der sichere, aufrechte Gang … Das Schreiben fällt mir immer schwerer: Wie meine Schritte immer kleiner werden, wenn ich nicht bewusst darauf achte, so wird auch meine Schrift immer kleiner, wenn ich die einzelnen Buchstaben nicht bewusst forme. Umso dankbarer bin ich, dass mir das Sekretariat der Stiftung Weltethos für meine Korrespondenz und vieles mehr weiterhin zur Verfügung steht. Zudem habe ich mir meine Neugierde bewahrt, möchte noch immer zu unbekannten Musikstücken den Komponisten wissen, die »Psychologie« der Vögel verstehen und die Methoden zur Regulierung des Hochfrequenz-Börsenhandels und zur Kontrolle der Abhörpraktiken des US-Geheimdienstes kennenlernen. So verfolge ich in Zeitungen, Radio und Fernsehen die politischen und wirtschaftlichen Tagesereignisse auf unserem Globus mit brennendem Interesse.
    Aber ich denke auch an die ganz andere Neugierde meines früheren marxistischen und atheistischen Tübinger Kollegen ERNST BLOCH nach dem, was seinen Worten nach »vielleicht« nach dem Tode kommt. Ich bin mir bewusst, dass plötzlich eine ernsthafte Verschlechterung meines Gesundheitszustands eintreten kann. Und habe bisher keine Sehnsucht danach, 90 Jahre alt zu werden. Ich meine, meine großen Aufgaben erfüllt zu haben, bin guten Mutes, leide unter keiner Depression und bin bereit, jeden Tag aufzubrechen. Auf keinen Fall möchte ich, wie manche andere, den Zeitpunkt meines rechtzeitigen Abschieds verpassen. Bleibe ich doch bei meiner Auffassung, dass die Frage des Wann und Wie meines Sterbens in meine Verantwortung gestellt ist, außer es würde mir die Entscheidung etwa durch einen sogenannten »Sekundentod«, Unfall oder Schicksalsschlag abgenommen. Genau dies ergibt sich für mich aus meinem Glauben an den gnädigen Gott, aus meinem Vertrauen, dass ich nicht in ein Nichts, sondern in die barmherzigen Hände Gottes falle. Ja, es ist ein Leben auf Abruf, und ich hoffe darauf, dass ich den Tag erkenne, an dem ich mich heimgerufen fühlen darf.
    Mit meinen 85 Jahren möchte ich für immer an der Wahl festhalten, die ich in meinen jungen Jahren bewusst vollzogen habe. Nach dem Mathematiker und Philosophen BLAISE PASCAL eine »Wette« (franz.: »pari«), für welche die Chancen gut stehen: »Infini ou rien«, gegen das Nichts für Unendlich. Das heißt: Ich verliere nichts, wenn ich an Gott und ein ewiges Leben glaube, kann aber in diesem Glauben alles gewinnen. Freilich habe ich es immer wieder betont: Für diesen Glauben besitze ich keine mathematisch-naturwissenschaftlichen Beweise, insofern keine absolute Sicherheit. Aber sehr wohl habe ich dafür gute Gründe und deshalb eine ruhige, tiefe Gewissheit.
    Dies alles ist unverkennbar das letzte große Wagnis der Freiheit: Wenn ich mich auf Gott verlasse, halte ich mich frei gegenüber allen endlichen Mächten und Instanzen, die nicht Gott sind. Mein unbedingtes Ja, mein letztes Amen , hebräisch für: »So sei es!« , kann ich keinesfalls irgendeiner irdischen Instanz oder Macht geben, keinem Staat und keiner Kirche, keinem Vorgesetzten, Guru, Führer oder Papst. Mein Amen sage ich allein dem, auf den ich mein Leben lang mein letztes Vertrauen setzte: »In te Domine speravi, non confundar in aeternum.« – »Auf dich, o Herr, habe ich vertraut. Du lässt mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit« (Ps 71,1).
    Am Ende dieser Lebenserinnerungen möchte ich meinen Gottesglauben nicht nur mit einem Bibelzitat beschwören, vielmehr mit einem Gebet in der Sprache der Menschen von heute bezeugen, wie ich dies gelegentlich auch vor einer großen Öffentlichkeit gewagt habe:
    Unser Leben ist kurz, unser Leben ist lang.
    Und voll Staunen stehe ich vor einem Leben,
    das seine unerwarteten Wendungen und doch seine Geradlinigkeit
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