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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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mich, wie mir die Erwachsenen erklärten, vollends als eigene Tochter annehmen. Ich war einverstanden, denn darin sah ich auch eine Art Revanche für den vermeintlichen Verrat meiner Mama an mir.
    Wenn wir durch die Neubausiedlung bummelten, nahm mich meine neue Mutter in spe gelegentlich an die Hand. Mehr Nähe ließ ich nicht zu. Nie habe ich sie umarmt oder gar geküsst. Das wollte ich trotz allem anscheinend immer noch meiner eigenen Mama vorbehalten. Meine Pflegemutter war stets nett zu mir, trotzdem redeten wir kein einziges Mal vertraut miteinander. Ich war keineswegs schon bereit, aus meinem selbstgesponnenen Kokon zu schlüpfen.
    Wenn Frau Dr. Denzer beschäftigt war, übernahm gelegentlich auch die Mutter des Nachbarsjungen meine Betreuung. Ich erinnere mich, dass sie mich einmal sogar zur nahe gelegenen Kinderarztpraxis begleitete. Mir war das sehr recht, denn so hatte ich zu der neuen Mama auch noch eine Ersatzfamilie hinzugewonnen. Mit ihrem Sohn Manfred verlor ich mich in der Welt der Kinderspiele. Unzählige Stunden verbrachten wir alleine mit »Mensch ärgere dich nicht«, und bald war ich mit ihm so vertraut wie mit einem Bruder.
    Umso verblüffter und verwirrter war ich, als meine Pflegemutter eines frühen Morgens im Sommer 1973 die Wohnungstür öffnete, während ich in mein Puppenspiel vertieft war. Wer stand vor mir, als ich kurz darauf in den Flur gerufen wurde? Mein Bruder Mirko, an der Hand von Frau Dr. Denzer. Ihr Lebensgefährte hatte ihn hergebracht. Mit keinem Wort hatte sie mir diesen Besuch angekündigt. Hegte sie etwa Bedenken, dass ich eifersüchtig reagieren könnte, oder wollte sie mir eine Überraschung bereiten? Die war ihr jedenfalls gründlich gelungen.
    »Mensch, Mirko«, entfuhr es mir, »da bist du ja endlich!« Ich hätte vor Freude an die Decke springen können. Mein Bruderherz, mein Blutsbruder und Beschützer; sofort spürte ich die Familienbande, denn mit ihm kehrte ein Teil meines früheren Lebens zurück. Eigentlich hätte ich ihn in die Arme schließen und an mein Herz drücken müssen.
    Aber Mirko hatte sich verändert. Er hatte sichtbar einen Wachstumsschub hinter sich. Nach der langen Reise sah er müde aus. Für mich war dieser Junge nicht mehr der Bruder, der mir eineinhalb Jahre zuvor so abrupt verlorengegangen war. Statt ihn mit Fragen zu löchern, wusste ich im ersten Moment gar nicht, was ich sagen sollte. Es war, als wären wir beide mit abstoßenden Magnetfeldern gepolt. Ich brachte es nicht fertig, ihm auch nur nahe zu kommen. Vielleicht hatte ich Angst, dass dann eine neuerliche Trennung für mich wieder schmerzhaft werden könnte. Eigentlich hatte ich in der letzten Zeit gar nicht mehr an meinen Bruder gedacht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Erst jetzt, da er vor mir stand, verspürte ich wieder den Stich, dass wir alle so auseinandergerissen waren.
    Auch Mirko wirkte nicht gerade euphorisch. Er sprach weder darüber, wo er herkam, noch über das, was in ihm vorging. Aus seinen kargen Bemerkungen ging lediglich hervor, dass er mittlerweile in einem Heim für ältere Kinder untergekommen war, das sich am Ufer der Weißen Elster in Gera befand, also gar nicht so weit von meiner bisherigen Heimstätte entfernt. Ich erfuhr auch nicht, ob er inzwischen wieder Kontakt zu Mama oder Oma hatte, ob er irgendetwas von ihnen wusste. Beinahe kam es mir so vor, als hätte jemand ihm zuvor eingebleut, mir nur ja nichts zu erzählen. So scheuten wir beide davor zurück, dieses heikle Thema überhaupt nur zu berühren. Als Geschwister hatten wir uns, gegen unseren Willen, in zwei Welten begeben, die deutlich voneinander entfernt waren.
    Bei näherer Betrachtung erschien Mirko mir jetzt eher als Störfaktor, als Eindringling in mein neu gewonnenes Nest. Er kümmerte sich seinerseits nicht weiter um mich und fand es großartig, dass er mit Manfred, dem Nachbarsjungen, einen Jungen vorfand, der sich als Spielkamerad anbot – obwohl Manfred doch eigentlich
mein
Freund war. Kaum hatte mein Bruder seine Jacke aufgehängt, hingen die beiden mit den Köpfen schon über dem Mühle-Spielbrett auf dem Teppichboden, wo sonst mein Platz war. Ich war abgeschrieben, hatte ausgedient. Bald kam es mir so vor, als hätte ich die ganzen Wochen zuvor lediglich als Platzhalterin fungiert, die nun gegen einen ernstzunehmenden Spielpartner ausgetauscht wird. Ich saß sprachlos daneben und sah zu, wie die beiden sich gegenseitig die Mühle-Steine abjagten. Für die ins Spiel vertieften Jungen
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