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Engelskraut

Engelskraut

Titel: Engelskraut
Autoren: Gmeiner-Verlag
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eigentlich sagen?«
    »Ich will dir sagen, dass ich es dir übel nehme, dass du mir damals nicht geholfen hast. Du hast draußen auf der Straße gespielt, während mich drinnen in unserem Gartenhäuschen zwei deiner Freunde vergewaltigt haben.«
    »Was?« Franca geriet außer sich. »Ludmilla! Das ist nicht wahr.«
    In Millas Augen spiegelte sich Leere, sie waren glasig. Die Wangen knallrot. Unbeirrt redete sie weiter. »Der eine hat mich festgehalten. Und der andere, Mecky, hat mich vergewaltigt. Ich wusste erst gar nicht, was die überhaupt wollten. Ich wusste nur, es ist nicht richtig, was die mit mir tun. Beide redeten auf mich ein, dass das nichts Ungewöhnliches sei, dass das alle machen und dass ich mich nicht so anstellen soll. Ich hab nur die Schmerzen gespürt und die Hilflosigkeit. Ich habe alles über mich ergehen lassen. Ich hatte ja nie gelernt, mich zu wehren. Aber das Schlimmste war gar nicht dieser körperliche Schmerz.« Sie hielt inne und fixierte Franca mit stechendem Blick. »Das Schlimmste war, dass ich wusste, da draußen ist meine Freundin. Und sie hilft mir nicht. Vielleicht macht sie sich sogar lustig darüber, was da drinnen mit mir im Gartenhäuschen passiert. Wie sie sich über so vieles lustig machte, was man mir antat. Jedenfalls kümmerte ich sie einen Dreck.«
    Franca war entsetzt. Das konnte einfach nicht wahr sein. Verzweifelt suchte sie in ihrer Erinnerung nach zumindest einem kleinen Schatten dessen, wovon Ludmilla gerade erzählte. Doch da war nichts als eine Horde kichernder Mädchen und Ludmilla, die traurig abseits stand.
    »Ich war elf Jahre alt, als ich im wahrsten Sinne des Wortes meine Unschuld verlor.« Milla malträtierte immer heftiger ihren Daumennagel. »Ich habe meiner Mutter von der Vergewaltigung erzählt. Und die wusste nichts Besseres, als jammernd zu meinem Vater zu rennen. Der sagte natürlich, dass das doch nur wieder meine Schuld war.«
    Ihr Daumennagel begann zu bluten.
    »Weißt du, Franca Mazzari, dass ich dich damals gehasst habe?«

37
    Durch ihren Körper lief ein Zucken. Sie schrak auf und sah um sich. Worte hallten in ihrem Kopf wie ein vielstimmiges Echo. Schlimme Anschuldigungen. Sie war zu Hause, in ihrem Bett. Geschützt. Da war niemand im Zimmer, der ihr ein Leid antun wollte.
    Mit offenen Augen lag sie da und starrte in die Dunkelheit. Etwas nagte in ihrem Innern, das an die Oberfläche drängte. Schlagartig war das Bewusstsein wieder da, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
    Das Ungeheuerliche, das Ludmilla ihr vorgeworfen hatte, ließ ihr einfach keine Ruhe. Der Ton ihrer Stimme. Dieses Anklagende. Es hatte sie den ganzen gestrigen Tag über beschäftigt. Jetzt war sie mitten in der Nacht aufgewacht, weil sie dies alles bis in den Schlaf quälte.
    Zum Wer-weiß-wie-vielten-Male versuchte sie, sich zu erinnern. Die Wege ihrer Kindheit zurückzugehen. Details aufzuspüren, denen sie lange keine Beachtung geschenkt hatte, Geschehnisse wiederzufinden, die vergessen waren und vielleicht irgendwo aus einer Ecke ihres Unterbewusstseins hervorgeholt werden mussten.
    Flimmernde Bilder in blassen Farbtönen und ohne rechte Konturen rückten ins Blickfeld. Sie waren Kinder. Sie waren elf Jahre alt. Sie hatten auf einem Weg zwischen Schrebergärten gespielt. Was spielte man mit elf Jahren? Federball. Hula-Hoop. Fangen. Die meisten Jungs waren doof gewesen in diesem Alter, doch Franca hatte sich mit etlichen gut verstanden. Von Erwachsenenspielen hatte man schon mal gehört, hinter vorgehaltener Hand, viele Vermutungen wurden geäußert, manches Absurde war dabei, Genaues wusste weder sie noch eine ihrer Freundinnen.
    Sie konnten sich totlachen über jede Kleinigkeit. ›Kicherlieschen‹ hatte ihre Mutter manchmal gesagt, wenn sie und ihre Freundinnen gar nicht mehr aufhören wollten zu giggeln. Jede hatte einen unerreichbaren Schwarm, man tapezierte das Zimmer mit Bravo-Starschnitten. Winnetou alias Pierre Brice war der Favorit gewesen. Oder auch Freddy Quinn, obwohl der von vielen wegen seiner Schmalzstimme verachtet wurde. Oder der Eiskunstläufer Hans-Jürgen Bäumler.
    Aber keine dachte daran, dass einem etwas Böses passieren konnte. Eine Vergewaltigung. Hatte sie damals überhaupt gewusst, was das Wort bedeutete?
    Sie fühlte sich schuldig wie nie in ihrem Leben. Obwohl sie genau genommen nicht schuldig war. Allein der Gedanke, dass man Milla etwas Schlimmes angetan hatte, während sie mit anderen Mädchen spielte, dieser Gedanke ließ sie
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