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Eistochter

Eistochter

Titel: Eistochter
Autoren: Dawn Rae Miller
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verschwinden. Es ist nichts da.
    Seine Lippen streifen meine Wange, als ich den Kopf wende, um ihn anzusehen. Verlegen löse ich mich mit einer Bewegung von ihm, die hoffentlich nicht zu auffällig wirkt. »Nein. Nur wegen der Bindungen allgemein.«
    Um uns herum drängen sich unsere Mitbewohner, während die Nachzügler noch schnell ihre Jacken und Mäntel überstreifen. Wir gehen immer als Gruppe zur Schule. Das ist Vorschrift. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Es sind schließlich Empfindsame auf freiem Fuß.
    »Kyra!«, ruft jemand. »Kommst du endlich?«
    Aber statt Kyra antwortet Bethina: »Können bitte alle ins Wohnzimmer kommen? Der Schulbeginn ist offiziell verschoben worden.«
    Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen und runzle die Stirn. Verschoben? Das ist ungewöhnlich. Zuletzt ist das geschehen, als das letzte Staatsoberhaupt bei einem Angriff der Empfindsamen ums Leben gekommen ist. Beck sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
    »Haben wir die Morgendurchsage verpasst?« Meine Lippen zittern ein wenig beim Sprechen. Ich kann mich nicht erinnern, die Schulneuigkeiten gesehen zu haben.
    Beck schüttelt den Kopf. Er versteht, was ich mit der Frage meine. »Ich bin mir sicher, dass alles in Ordnung ist, sonst hätte Bethina es dir schon gesagt. Unter vier Augen.«
    »Wie damals, als Kyras Bruder ums Leben gekommen ist?«, stoße ich hervor und kneife die Augen zu. Die Erinnerung, wie Kyra tagelang zusammengerollt und schluchzend dagelegen hat, bricht mir noch immer das Herz. Ihr Bruder war außerhalb der Sicherheitszone Empfindsamen begegnet. Er hatte keine Chance.
    Beck zieht mich zu sich. »Steigere dich da nicht in etwas hinein, ja?« Er führt mich ins Wohnzimmer. »Lass uns hören, was Bethina zu sagen hat.«
    Aber mein Verstand kann gar nicht anders, als sich ein Katastrophenszenario auszumalen: Meiner Mutter ist etwas zugestoßen. Ausnahmslos jeden Morgen hält sie die Tagesansprache. Ich glaube nicht, dass es heute eine gab.
    Fußgetrappel auf der Treppe kündigt Kyras Ankunft an. Als sie schlitternd zum Stehen kommt, wedelt sie uns mit einem flachen silbernen Tablet-Computer vor der Nase herum. »Tut mir leid, Leute, ich konnte mein Buch nicht finden.«
    Ein Stöhnen steigt vom Rest unserer Gruppe auf. Kyra verlegt ihr Buch jeden Morgen.
    »Was ist los?«, fragt sie, als sie bemerkt, dass die Hälfte unserer Mitbewohner nicht mehr da ist.
    »Der Staat hat verfügt, den Schulbeginn zu verschieben«, antwortet Bethina. »Bitte geht ins Wohnzimmer.«
    Ich habe Glück. Anders als die übrigen Schüler, die ihre Eltern sechsmal im Jahr sehen, sehe ich meine Mutter täglich. Zumindest im Fernsehen. Ich habe meine Mutter erst ein paar Mal in meinem Leben besucht. Den Staat zu führen erfordert einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit. Aber wenn ihr etwas zugestoßen ist, ein Unfall oder ein weiterer Mordanschlag dieser elenden Empfindsamen …
    »He, hör auf damit. Es geht ihr gut.« Beck setzt sich über die Regeln hinweg und zieht mich näher an sich. Als ich mich an ihn schmiege, wird das Zittern, das meinen Körper schüttelt, noch offensichtlicher. »Atme tief durch, Vögelchen.«
    Er hat recht. Kein Grund, mit schlechten Nachrichten zu rechnen. Es könnte alles Mögliche sein.
    Nur dass es nicht das erste Mal wäre, dass Empfindsame einen Anschlag auf Staatsfunktionäre verüben – oder auf meine Mutter. Und die Angriffe sind in letzter Zeit häufiger geworden, obwohl der Staat die Rädelsführer stets verhaftet und ihnen den Prozess macht.
    »Warum sperrt der Staat sie nicht einfach alle weg? Das wäre sicherer«, sage ich. »Man könnte sie doch irgendwo gesondert unterbringen, vielleicht in den Midlands, weit weg von uns anderen.«
    Beck bleibt stehen und starrt mich an. »Nicht alle von ihnen haben Verbrechen begangen, Lark. Das weißt du auch. Und außerdem: Wer sollte all die niederen Arbeiten verrichten, wenn sie nicht mehr da wären?«
    »Ich weiß nur, dass sie uns hassen. Sie wollen uns tot sehen.« Ich lehne mich gegen die Couch, halte mir die Arme eng vor den Bauch und warte. Ich beuge mich vor und spüre, wie Becks Hände mir den Rücken reiben.
    »Das ist typisch für sie«, höre ich Lina sagen. Zuerst vermute ich, dass sie von den Empfindsamen spricht, aber dann fährt sie fort: »Sie können tun, was sie wollen, während wir anderen schon bestraft werden, wenn wir uns auch nur umarmen.«
    »Sei still, Lina. Lark ist ganz
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