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Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Titel: Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
Autoren: Jan Costin Wagner
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auf halbem Weg brach seine Stimme. Einige Sekunden vergingen. Merja entgegnete nichts, und in seinen Gedanken hallten die Worte nach, die er eben gesprochen hatte.
    »Sie hat keine Schmerzen gehabt«, sagte er, als sich die Pause in die Länge zog.
    »Aber wir wollten doch am Wochenende zu euch kommen, du weißt doch, dass wir das wollten«, rief Merja, und während Kimmo nach beruhigenden, tröstenden Worten suchte, begann sie zu schreien und zu weinen. Joentaa hörte Jussis Stimme, erst leise, dann direkt in der Leitung.
    »Was ist los, Kimmo?«, fragte er hektisch, und Joentaa wiederholte, was er Merja gesagt hatte. Wieder brach seine Stimme, und wieder hallte der unwirklich wirkende Satz wellenartig in seinen Gedanken nach. Jussi schwieg, aber Joentaa hatte den Eindruck, sein Entsetzen über die Distanz hinweg zu spüren.
    Im Hintergrund weinte Sannas Mutter in hektischen Stößen. »Du musst dich jetzt um Merja kümmern«, sagte Joentaa, aber Jussi schwieg noch immer.
    »Gestern Nacht …«, sagte er nach einer Weile sehr langsam. »Gestern Nacht, hast du gesagt …«
    »Gestern Nacht um kurz nach drei«, entgegnete Joentaa.
    »Das ist eine schlimme Nachricht …«, sagte Jussi mehr zu sich selbst als zu ihm. »Eine sehr schlimme Nachricht …«
    »Du solltest dich jetzt um Merja kümmern«, sagte Joentaa noch einmal. »Ich werde mich am Abend wieder melden.«
    »Tu das, Kimmo«, sagte Jussi Sihvonen, aber Joentaa hatte noch immer den Eindruck, dass er gar nicht aufnahm, was er ihm sagte, weil er nicht zu begreifen schien, was passiert war.
    »Bis nachher, Jussi«, sagte Joentaa. Als Sannas Vater nicht reagierte, legte er behutsam den Hörer auf die Gabel. Er starrte durch die geöffnete Terrassentür ins Freie und hörte von fern das Lachen und Schreien von Kindern und Schläge im Wasser.
    Vielleicht waren es die drei Jungen in ihrem Ruderboot, die die morgendliche Begegnung mit ihm und sein merkwürdiges Verhalten längst vergessen hatten. Er versuchte, sich vorzustellen, wie Merja und Jussi Sihvonen den Schock bewältigen würden, und hoffte, dass Jussi die Geistesgegenwart besaß, für Merja einen Arzt zu holen. Er erwog kurz, noch einmal anzurufen, verwarf den Gedanken jedoch. Er war erleichtert, das Gespräch so schnell hinter sich gebracht zu haben.
    Er trat ins Freie und stützte sich gegen den Liegestuhl, auf dem Sanna seit Monaten, eingehüllt in Wolldecken, ihre Nachmittage verbracht hatte. Schon im April hatte sie beharrlich das Recht eingefordert, im Freien zu sitzen. Seinen Hinweis, dass es viel zu kalt sei, hatte sie unwillig beiseitegewischt mit der einfachen Feststellung, es sei jetzt Frühling. Es war kalt geblieben, einer der kältesten Sommer, an die er sich erinnern konnte, und in der Nacht vor dem ersten wirklich heißen Tag war Sanna gestorben.
    Er erinnerte sich an den Moment, in dem die Krankenschwester das Licht angeschaltet und er Sannas Gesicht gesehen hatte. Sie hatte so ausgesehen wie in vielen Nächten, in denen er sie betrachtet hatte, während sie schlief.
    Er begann, widerwillig den Gedanken zu formen, dass sie wirklich nur geschlafen hatte, längst wieder aufgewacht war und sich fragte, wo er sei. Er wusste, dass der Gedanke falsch war, er ahnte, dass er gefährlich war, und wollte ihn abschütteln, aber es gelang ihm nicht. Der Gedanke quälte ihn und linderte gleichzeitig den tauben Schmerz.
    Er stand auf, nahm seine Schlüssel und fuhr zum Krankenhaus.
    Während der Fahrt stellte er sich vor, dass Sanna ihn anlächeln würde, wenn er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Als er am Krankenhaus aus dem Wagen stieg, war das Bild schon fast verschwunden, aber er bemühte sich, es festzuhalten, während er das massige weiße Gebäude betrat und mit dem Aufzug in den zweiten Stock fuhr. Er lief schnell zu dem Zimmer, in dem Sanna gelegen hatte, aber in ihrem Bett lag eine alte Frau, die ihn fragend ansah, als er in den Raum stürzte. Er wandte sich ab, lief den Korridor entlang, fragte einen entgegenkommenden jungen Pfleger nach Rintanen und erhielt die Auskunft, dass der Arzt einen freien Tag habe.
    »Ich suche meine Frau«, sagte er. »Sanna Joentaa, sie lag bis gestern in Zimmer 21.«
    »Sie ist … meines Wissens … gestern verstorben«, sagte der Pfleger verunsichert.
     »Das weiß ich«, entgegnete Joentaa unwillig. »Ich möchte wissen, wo sie ist. Ich möchte zu ihr.«
    »Ich weiß nicht … ob das möglich ist«, sagte der Pfleger und sah sich Hilfe suchend um. »Ich werde
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