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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Autoren: Wilhelm Genazino
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mich einsteigen. Er fuhr sofort los.
    Für die Entladung eines Waggons brauchen Sie ungefähr zwei Stunden, manchmal zweieinhalb, je nachdem, wie schwer oder sperrig die einzelnen Stücke sind. Achten Sie darauf, daß Sie immer zuwenig Leute haben, niemals zuviel. Es darf nicht vorkommen, daß Arbeiter untätig herumstehen, sagte der Prokurist.
    Ich hörte zu. Die Nähe des Prokuristen machte mir Beklemmungen. Ich kurbelte die Fensterscheibe ein bißchen herunter und beobachtete die Amseln. Ihre Frühschluchzer drangen aus den Büschen hervor und verklangen zwischen geparkten Autos. Ich wünschte mir, daß der Prokurist über seine Theatereindrücke redete. Dann hätte ich vielleicht nach Ingrid fragen können. Aber der Prokurist mied das Thema Theater. Auf einem Bahndamm rangierte eine Lok. Unter einer Eisenbahnbrücke standen ein paar Männer. Sie hielten kleine Bündel unter den Armen und rauchten. Etwa zweihundert Meter nach der Eisenbahnbrücke hielt der Prokurist das Auto an.
    Das ist die Außenstelle, sagte er und zeigte auf ein zementfarbenes, zweistöckiges Gebäude. Je später Sie kommen, desto schlechter ist die Auswahl, sagte der Prokurist.
    Wir stiegen aus und betraten den Seiteneingang der Außenstelle. Linker Hand stand eine Tür offen, hier war das Büro des Chefs. Es war ein kleiner fensterloser Raum, in dem sich außer dem Chef niemand aufhielt. Der Prokurist stellte mich vor und sagte: Der junge Mann wird künftig öfter Leute bei Ihnen holen. Der Chef erhob sich hinter seinem Schreibtisch.
    Die Männer, die Sie nehmen, sagte der Chef, brauchen einen Personalausweis und einen Sozialversicherungsausweis. Wenn sie das nicht haben, dürfen sie nicht arbeiten. Notieren Sie sich die Namen der Arbeiter, für die Sie sich entscheiden, und geben Sie mir hinterher den Zettel mit den Namen, dann weiß ich Bescheid.
    Wir verließen das Büro des Chefs und gelangten durch einen unbeleuchteten Flur in eine kleine Halle. Zwischen dreißig und vierzig halb zerlumpte, trübe blickende Männer saßen ringsum auf den Wartebänken. Ich erschrak. Erst kürzlich hatte ich Dostojewskis »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« gelesen. Augenblicklich war ich überzeugt, mich in diesem Totenhaus zu befinden. Ein Zucken und Aufschauen und Erschrecken ging durch die Körper der Männer. Der Prokurist ging gezielt auf die jüngeren und kräftigeren Männer zu. Ich hielt mich knapp hinter ihm und schaute überall dort hin, wo er hinschaute. Viele der Tagelöhner hatten eine offene Bierflasche in der Hand. Auch andere Chefs und Unternehmer suchten hier nach Arbeitern. Manche streckten nur den Zeigefinger. Dann erhob sich ein Mann und ging auf den Zeigefinger zu. Nach zehn Sekunden war die Einstellung beendet. In meiner Nähe klagte ein Arbeiter über sein kaputtes Knie. Er redete über schmerzhafte Gefühle beim Gehen. In seinem oberhessischen Dialekt sprach er das Wort Gefühl jedesmal wie Gefäul aus, was mir gut gefiel. Der Prokurist ließ sich von zwei Männern die Ausweise zeigen, sie waren in Ordnung.
    Sie müssen auch nachprüfen, sagte der Prokurist zu mir, ob die Personalausweise noch gültig sind.
    Drei weitere Männer zogen unaufgefordert ihre Ausweise hervor und zeigten sie dem Prokuristen. Ich konnte den Gestank in der Tagelöhnerhalle kaum noch ertragen. Der Prokurist wies die drei Männer an mich. Ich sah zuerst in ihre Gesichter und dann in ihre Personalausweise.
    Die Ausweise sind o.k., sagte ich.
    Der Prokurist übergab den Männern die StundenlohnVereinbarung.
    Ich lieh ihnen einen Kugelschreiber, die Männer unterschrieben die Papiere. Dann machte einer der Tagelöhner einen Fehler. Er hielt sich die Vereinbarung zu nah vor die Augen. Das bedeutete, daß er schlecht sah. Schon zog ihm der Prokurist die Vereinbarung wieder aus den Händen und zerriß sie vor seinen schlechten Augen. Der Prokurist entschied sich rasch für einen anderen Tagelöhner. Er notierte sich die Namen der von ihm und mir ausgewählten Arbeiter und sagte ihnen, daß sie sich Punkt 9.00 Uhr in der Halle B bei mir melden sollten.
    Kurz vor 9.00 Uhr, als die Männer vor mir standen, waren sie noch schüchterner als in der Wartehalle. Drei von ihnen nahm ich selber für die Entladung eines Waggons aus Nürnberg, in dem sich Fernsehgeräte befanden. Aus drei weiteren Arbeitern stellte ich eine neue Kolonne zusammen und übergab sie dem Vorarbeiter Kaindl. Die restlichen drei Männer teilte ich schwächeren Kolonnen als Verstärkung zu. Die
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