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Ein Lotterielos. Nr. 9672

Ein Lotterielos. Nr. 9672

Titel: Ein Lotterielos. Nr. 9672
Autoren: Jules Verne
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herein?«
    »Nun, auf 1 Minute. Ich muß noch heut abend zu Hause
    zurück sein, da ich morgen früh einen Schußkarren zu fah-
    ren habe.«
    »So nimm wenigstens den Auftrag mit, Joel zu sagen,
    daß ich morgen selbst kommen würde; er soll mich erwar-
    ten.«
    »Morgen abend?«
    »Nein, im Laufe des Vormittags. Jedenfalls soll er Moel
    nicht verlassen, ehe er mich getroffen hat. Wir werden dann
    zusammen nach Dal zurückfahren.«
    »Abgemacht, Frau Hansen.«
    »Na, willst du nicht einen Tropfen Branntwein?«
    »Mit Vergnügen!«
    Der junge Bursche hatte sich dem Tisch genähert und
    Frau Hansen ihm ein wenig von dem landesüblichen stär-
    kenden Aquavit vorgesetzt, der so vortrefflich gegen die
    Schädlichkeit der Abendnebel schützt; jener ließ keinen
    Tropfen in der ihm dargereichten kleinen Tasse.
    » God aften! « sagte er dann.
    » God aften, mein Junge!«
    So lautet das norwegische gute Nacht, das hier ganz ein-
    fach, ohne die geringste Neigung des Kopfs ausgewechselt
    wurde. Und der junge Bursche zog seines Weges, unbeküm-
    mert um die lange Strecke, die er noch zurückzulegen hatte.
    Bald schwand er unter den Bäumen des Fußsteigs, der den
    murmelnden Fluß begleitet, aus den Augen.

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    Hulda betrachtete inzwischen noch immer den Brief
    Oles, beeilte sich aber gar nicht, ihn zu öffnen. Doch man
    bedenke nur! Diese gebrechliche Papierhülle hatte den
    ganzen Ozean überschreiten müssen, um zu ihr zu gelan-
    gen, das ganze große Weltmeer, in dem sich die Küsten des
    westlichen Norwegens verlieren. Sie prüfte die verschie-
    denen Poststempel. Am 15. März aufgegeben, kam dieser
    Brief doch erst am 15. April in Dal an; Ole hatte ihn also
    schon vor 1 Monat geschrieben. Was hatte sich nicht alles
    während dieses Monats ereignen können in der Nähe der
    Gestade von Newfoundland (Neufundland) – wie die Eng-
    länder statt der französischen Bezeichnung Terre-Neuve
    sagen. War jetzt nicht noch Winter, die gefährliche Zeit
    der Tagundnachtgleiche? Und jene Fischgründe gehören
    zu den gefährlichsten der Welt, da hier sehr häufig furcht-
    bare Windstöße vorkommen, die der Pol über die Ebenen
    Nordamerikas hinabsendet. Oh, es ist ein mühseliges und
    gefährliches Leben, das des Hochseefischers, das auch Ole
    führte. Und den reichen Gewinn davon brachte er nicht
    einmal für sich selbst heim oder für die Verlobte, die er bei
    seiner Rückkehr heiraten wollte. Armer Ole! Was schrieb
    er wohl in diesem Brief ? Gewiß, daß er Hulda noch immer
    liebte, wie Hulda ihn stets lieben würde, daß ihre Gedanken
    sich trotz der Entfernung begegneten und daß er den Tag
    seiner Rückkehr nach Dal herbeisehne.
    Ja, das mußte er sagen, Hulda wußte es gewiß. Vielleicht
    schrieb er auch noch, daß seine Heimkehr nah bevorstehe,
    daß diese Fischereikampagne, welche die Fischer von Ber-
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    gen ihrer Heimat so weit entführt, endlich zu Ende gehen
    sollte. Vielleicht berichtete ihr Ole auch, daß die ›Viken‹
    nur noch ihre Ladung verstaue und sich zum Lichten der
    Anker rüste, daß die letzten Tage des April nicht vergehen
    würden, ohne beide wieder in dem glücklichen Haus des
    Vestfjorddals vereinigt zu sehen? Vielleicht meldete er ihr
    gar, daß schon der Tag bestimmt werden könne, an dem der
    Pfarrer von Moel hinüberkommen solle, um sie in der klei-
    nen hölzernen Kapelle zu vereinigen, deren Glockenturm
    aus einer dichten Baumgruppe einige hundert Schritte von
    der Herberge von Frau Hansen hervorlugte?
    Um das zu erfahren, hätte es ja genügt, das Siegel des
    Umschlags zu lösen, den Brief Oles herauszuziehen und
    diesen unter Tränen des Schmerzes oder der Freude, die
    sein Inhalt den Augen Huldas eben entlocken mochte, zu
    lesen. Und ohne Zweifel hätte ein ungeduldigeres Kind des
    Südens, ja auch ein Mädchen aus Dalarne, aus Dänemark
    oder Holland schon längst gewußt, was die junge Norwege-
    rin jetzt noch nicht wußte. Aber Hulda träumte eben, und
    Träume enden bekanntlich nicht eher, als bis es Gott gefällt,
    sie abzubrechen. Und wie oft bedauerte man sie, daß die
    Wirklichkeit nicht selten gar so enttäuschend ist!
    »Mein Kind«, begann da Frau Hansen, »ist denn der
    Brief, den dein Bruder dir sendet, wirklich von Ole?«
    »Ja, ich erkenne die Handschrift.«
    »Und willst du mit dem Lesen etwa bis morgen war-
    ten?«
    Hulda betrachtete zum letzten Mal den Umschlag. Nach-
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    dem sie ihn dann ohne besondere Eile geöffnet, entnahm
    sie
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