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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr
Autoren: Jojo Moyes
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ungefähr alle halbe Stunde sah ich ihren Blick zu der Uhr auf dem Kaminsims wandern. Es war schrecklich mit anzusehen. Ich ging mit Thomas schwimmen und versuchte, sie zum Mitkommen zu überreden. Ich sagte, Mum würde Thomas hüten, wenn sie später mit mir einkaufen gehen wollte. Ich sagte, ich würde mit ihr in den Pub gehen, nur wir beide, aber sie lehnte jedes Angebot ab.
    «Was ist, wenn ich einen Fehler gemacht habe, Treen?», sagte sie so leise, dass nur ich sie hören konnte.
    Ich warf einen Blick auf Großvater, aber er hatte nur Augen für das Pferderennen im Fernsehen. Ich glaube, Dad setzte immer noch einmal in der Woche heimlich ein paar Pfund für Großvater, auch wenn er es Mum gegenüber leugnete.
    «Was meinst du damit?»
    «Was ist, wenn ich mit ihm hätte fahren sollen?»
    «Aber … du hast gesagt, du kannst es nicht.»
    Der Himmel war grau. Lou starrte durch unsere perfekt geputzten Fenster auf den schrecklichen Tag da draußen.
    «Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber jetzt kann ich es nicht ertragen, nicht zu wissen, was passiert.» Ihr Gesicht verzog sich ein bisschen, als würde sie gleich wieder anfangen zu weinen. «Ich halte es nicht aus, nicht zu wissen, wie es ihm geht. Ich halte es nicht aus, dass ich mich nicht einmal von ihm verabschiedet habe.»
    «Kannst du nicht jetzt noch hin? Vielleicht gibt es ja noch einen Flug.»
    «Zu spät», sagte sie. Und dann schloss sie die Augen. «Ich würde es nie rechtzeitig schaffen. Es sind nur noch zwei Stunden, bis … bis sie für heute damit aufhören. Das habe ich nachgesehen. Im Internet.»
    Ich wartete ab.
    «Sie … sie machen es nicht … nach halb sechs.» Sie schüttelte abwesend den Kopf. «Hat was mit den Schweizer Beamten zu tun, die dabei sein müssen. Sie wollen … außerhalb der Bürozeiten … keine Urkunden ausstellen.»
    Ich musste beinahe lachen. Aber ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, warten zu müssen, wie sie wartete, während sie wusste, was irgendwo weit weg passierte. Ich hatte noch nie einen Mann so geliebt, wie sie Will zu lieben schien. Klar, ich hatte ein paar Männer gemocht, und ich wollte mit ihnen schlafen, aber manchmal fragte ich mich, ob mir irgendein Sensibilitätsgen fehlte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wegen jemandem zu heulen, mit dem ich einmal zusammen gewesen war. Der einzige adäquate Vergleich für mich war, wenn ich mir vorstellte, Thomas würde in einem anderen Land auf seinen Tod warten, und sobald mir dieser Gedanke gekommen war, wollte irgendetwas in mir austicken, so grauenhaft war die Vorstellung. Also steckte ich sie in die allertiefste Schublade in meinem Kopf, die mit Unvorstellbar beschriftet war.
    Ich setzte mich neben meine Schwester aufs Sofa, und wir starrten schweigend die Maiden-Rennen um halb vier an, dann die Handicap-Rennen um vier Uhr und auch noch die nächsten vier Rennen, und wir waren so fixiert auf den Bildschirm, als hätten wir unser sämtliches Geld auf Sieg gesetzt.
    Und dann klingelte es an der Tür.
    Innerhalb von Sekunden war Louisa aufgesprungen und im Hausflur. Sie machte auf, und die Art, mit der sie die Tür aufriss, ließ sogar mir das Herz stehenbleiben.
    Aber es war nicht Will. Es war eine junge Frau. Sie war stark und perfekt geschminkt und trug das kinnlange Haar in einem säuberlich geschnittenen Bob. Sie klappte ihren Schirm zusammen, lächelte und umfasste die große Tasche, die sie über der Schulter trug. Ich fragte mich kurz, ob das vielleicht Will Traynors Schwester war.
    «Louisa Clark?»
    «Ja?»
    «Ich komme vom Globe . Könnten wir uns vielleicht kurz unterhalten?»
    «Vom Globe ?»
    Ich hörte die Verwirrung in Louisas Stimme.
    «Die Zeitung?» Ich trat hinter meine Schwester. Da sah ich den Notizblock, den die Frau in der Hand hielt.
    «Darf ich hereinkommen? Ich würde mich gerne kurz mit Ihnen über Will Traynor unterhalten. Sie haben doch für Will Traynor gearbeitet, oder?»
    «Kein Kommentar», sagte ich. Und bevor die Frau noch etwas sagen konnte, knallte ich ihr die Tür vor der Nase zu.
    Meine Schwester stand wie betäubt im Flur. Sie zuckte zusammen, als es erneut klingelte.
    «Mach nicht auf», zischte ich.
    «Aber woher …?»
    Ich begann, sie die Treppe hinaufzuschieben. Meine Güte, sie war wirklich unglaublich langsam. Es war, als wäre sie im Halbschlaf. «Großvater, geh nicht an die Tür!», rief ich. «Mit wem hast du geredet?», sagte ich, als wir auf dem Treppenabsatz waren.
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