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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen
Autoren: Andrea Sawatzki
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Körper baumelten, wären Zöpfe.
    Das Handtuch war rau, sie rubbelte damit über ihren Körper, bis die Haut brannte. Dann begleitete die Pflegerin sie zurück in ihr Zimmer. Sie setzte sich unter dem kleinen Fenster auf den Boden und starrte auf das graue Linoleum vor sich. Lange Zeit blieb sie so sitzen.
    Es wirkte, als habe sich die Leblosigkeit auch Zugang zu ihrer Seele verschafft. Aber in ihrem Kopf tobte es. Sie versuchte sich verzweifelt an die Stunden zu erinnern, bevor man sie im Wald entdeckt hatte, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Kaum hatte sie das Gefühl, einen klaren Gedanken zu fassen, löste er sich schon wieder auf.
    Sie wusste, sie war mit ihrem Mini zur Arbeit gefahren und hatte den Wagen am Straßenrand geparkt. Es war bereits dunkel gewesen, als sie auf das Haus zugelaufen war, und sie hatte sich darüber geärgert, dass sie sich das Haar eingedreht hatte, bevor sie losgefahren war, denn es hatte in Strömen geregnet.
    Danach war jede Erinnerung ausgelöscht.
    Das Nächste, was sie vor sich sah, war die nass glänzende Fahrbahn am frühen Morgen. Es wurde gerade hell, sie saß in ihrem Auto und fuhr ziellos durch die menschenleeren Straßen. Sie fror und wusste nicht mehr, wo sich der Schalter für die Heizung befand. Irgendwann stieg sie dann aus, weil sie das Gefühl hatte, etwas Dunkles säße hinter ihr auf dem Rücksitz und beobachtete sie. Sie öffnete die Wagentür und rannte los. Bis sie sich in einem Wald wiederfand und sich unter den Zweigen eines Baumes versteckte. Ihr war übel, und sie bekam keine Luft, die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Und irgendwann wachte sie wieder auf, wie aus einem langen Traum. Sie hatte Kinderstimmen gehört und wusste im ersten Moment nicht, ob die Stimmen zu ihrem Traum gehörten oder real waren.
    Plötzlich öffnete sich die Zimmertür, und eine Pflegerin brachte das Abendessen. Brot, helle Wurst und abgepackter Käse. Nachdem sie wieder gegangen war, lag minutenlang ein unangenehmer Schweißgeruch in dem kleinen Raum.
    Die junge Frau rührte das Essen nicht an.

MITTWOCH
    8
    Abendzeitung, 17. 11. 1992
    RÄTSELHAFTER MORD AN RENTNER
    Der Tod des ehemaligen Leiters der Justizvollzugsanstalt Hof, Dr. Wilfried Ott (71), gibt der Polizei Rätsel auf.
    Gestern Morgen gegen 6 Uhr früh ging bei der Polizeidienststelle Grünwald ein Anruf ein, in dem sich ein Mann über lautes Winseln und Gebell seiner Nachbarshunde beschwerte. Da es sich um Wachhunde handelte, hatte ihre stete Anwesenheit im benachbarten Garten zunächst keinen Verdacht erregt. Erst der Lärm, den die Tiere verursachten, machte den Anwohner aufmerksam, sodass er schließlich die Polizei alarmiert.
    Nach Eintreffen vor Ort und dem Betäuben der aggressiven Hunde durch den Tiernotdienst fanden die Beamten im Obergeschoss der Villa die Leiche des Hauseigentümers. Der Tote lag mit schweren Schädelverletzungen und tiefen Wunden am ganzen Körper in seinem Schlafzimmer. Wertgegenstände oder Bargeld scheinen nach ersten Erkenntnissen nicht entwendet worden zu sein. Wilfried Ott lebte nach Aussagen seiner Nachbarn zurückgezogen und allein, nachdem vor einigen Jahren seine Frau verstorben war.
    Wie es zu der grauenhaften Tat kam, ist zurzeit noch ungeklärt. Die Mordkommission hat die Ermittlungen aufgenommen.

9
Als das Frühstück gebracht wurde, saß sie wieder unter dem Fenster auf dem Boden. Sie lächelte und bedankte sich bei der Pflegerin. Obwohl sie wusste, dass der Schweißgeruch auch dieses Mal noch lange im Raum bleiben würde, fühlte sie sich auf unerklärliche Weise mit der Pflegerin verbunden. Sie strahlte Mütterlichkeit und Wärme aus, was vielleicht auch mit ihrer Körperfülle zu tun haben mochte.
    Als die junge Frau wieder allein war, versuchte sie erneut, sich zu konzentrieren.
    Vor dem Fenster zog ein Gewitter auf. Sie konnte den Sturm hören, der unten im Hof an den Mülltonnen rüttelte, das Pfeifen, wenn er um die Hausecken jagte.
    Bald würde es regnen.
    Eine Erinnerung holte sie ein. Das erste Mal seit langer Zeit sah sie ein Bild in ihrem Innern und fand Worte dafür:
    Sie hatte Sommerferien, saß auf der Fensterbank ihres Zimmers und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie war ungefähr neun Jahre alt. Vor ihr erstreckte sich die Pracht des Blumenbeetes. Das Blau des Rittersporns und das satte Orange der Feuerlilien mischten sich mit den unterschiedlichsten Grüntönen: die fröhlichen Farbtupfer der Wicken, die sich etwas seitlich am
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