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Dunkles Feuer

Dunkles Feuer

Titel: Dunkles Feuer
Autoren: David Kenlock
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die den Tag nicht erwarten konnten, bis sich die Türen der Schule das letzte Mal hinter ihnen schließen würden.
    Steve war anders. Mit seinen zwölf Jahren war er überaus intelligent. Er schien das Wissen in sich aufzusaugen. Allerdings entdeckte sie zunehmend Schwächen in seinem Sozialverhalten, die sie beunruhigten. Der Junge war verschlossen und suchte keinen Kontakt zu anderen Kindern. Zwar beantwortete er im Unterricht die ihm gestellten Fragen, aber er meldete sich niemals zu Wort. Für ein Kind seines Alters war er zu ernst, und sie befürchtete, dass er als Erwachsener unter Depressionen leiden könnte.
    Sie betrachtete Robert Sanders aufmerksam, der im Türrahmen stand und unbeholfen seinen Hut knetete.
    „Bitte kommen Sie doch herein“, lud sie ihn freundlich ins Zimmer. „Setzen Sie sich.“
    Ihre Hand deutete auf einen Polsterstuhl gegenüber von ihrem mit Akten übersäten Schreibtisch.
    Robert Sanders nahm Platz. Als er den Hut über die Lehne hängte, bemerkte Mrs.Guterson seine schlanken Hände, die nicht zu einem Farmer zu passen schienen. Er war etwa ein Meter achtzig groß, mit kurzen, braunen Haaren, in denen sich das erste Grau zeigte. Sein Gesicht war zerfurcht und sonnengebräunt. Er strahlte Kraft und Ruhe aus.
    „Möchten Sie etwas trinken, Mr.Sanders? Einen Kaffee vielleicht?“
    „Danke, Mam. Das wäre freundlich.“ In seiner Stimme schwang der Klang des Westens und erinnerte sie daran, dass es Menschen wie dieser Mann waren, die sie dazu bewogen hatten, New York zu verlassen und auf dem Land ihr Glück zu suchen. Hier im Westen der USA hatten die Menschen noch Zeit. Sie sprachen und bewegten sich bedächtig. Nach der Hektik der Großstadt und der schwelenden Aggression ihrer Bewohner wirkte das Leben in Darton wie ein sanfter Fluss, der sich geruhsam einen Weg durch das Land suchte. Sie hatte ihre Entscheidung nie bereut, und sie wusste, dass sich das auch nicht ändern würde.
    „Mr.Sanders, es freut mich, dass Sie die Zeit gefunden haben, sich mit mir über Steve zu unterhalten“, begann sie das Gespräch. Aus einer Thermoskanne schenkte sie zwei Tassen Kaffee ein und reichte ihm eine davon. Er nickte zum Dank. Wie erwartet, lehnte er Milch und Zucker ab.
    „Was ist mit Steve?“, fragte er vorsichtig.
    „Nichts Ernstes, aber es gibt da ein paar Dinge, die ich mit Ihnen besprechen möchte.“
    Er trank den Kaffee in kleinen Schlucken und hielt dabei die Tasse mit beiden Händen umklammert. Eine eigentümliche Geste, dachte Ruth. So als wolle er sich wärmen. Draußen vor dem Fenster flirrte die Hitze. Kein Windhauch ging. Es war Hochsommer.
    Sie begann, Robert Sanders von ihren Beobachtungen und Sorgen zu berichten. Als sie endete, fragte sie, ob er eine Erklärung für Steves Verhalten habe.
    „Sie wissen bestimmt, dass seine Mutter bei der Geburt gestorben ist“, erklärte Robert Sanders. „Vielleicht liegt es daran. Steve war schon immer ein ruhiges Kind.“ Er machte eine Pause und stellte die leere Kaffeetasse auf den Schreibtisch. „Auf einer Farm gibt es nicht viel zu reden, aber viel zu tun. Oft sehe ich den Jungen erst beim Abendessen.“
    „Was ist mit Billy?“, Steves Bruder hatte die Schule vor zwei Jahren verlassen und arbeitete seit dieser Zeit in einer nahe gelegenen Autowerkstatt. „Verstehen sich die beiden?“
    Über Robert Sanders Gesicht zog ein Schatten. „Steve hängt an Billy. Er läuft ihm praktisch den ganzen Tag hinterher, aber Billy behandelt ihn gleichgültig, was zum einen am Altersunterschied liegt, zum anderen bestimmt damit zu tun hat, dass Billys Mutter bei Steves Geburt starb. Er macht seinen Bruder dafür verantwortlich.“
    Ruth Guterson wusste, dass Robert Sanders nicht Billys Vater war. Sanders hatte den Jungen bei seiner Hochzeit vor zwölf Jahren adoptiert.
    „Wie geht Steve mit Billys Verhalten um?“, fragte sie.
    „Nun, er scheint es zu akzeptieren. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, aber er sagt nur ‘Das geht schon in Ordnung, Dad. Billy mag mich, auch wenn er es nicht zeigen kann’.“
    Ruth Guterson ging in Gedanken noch einmal ihre Möglichkeiten durch. Eigentlich konnte sie nicht viel tun. Der Schulpsychologe würde sich erst einschalten, wenn Steve eindeutige Verhaltensauffälligkeiten zeigte, aber nachdem ihre Sorgen ausgesprochen waren, fühlte sie sich besser.
    Robert Sanders machte auf sie einen verantwortungsbewussten Eindruck. Sicherlich würde auch er Steve beobachten und in die richtige Richtung
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