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Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
Autoren: Redline Wirtschaft
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gute Besserung. Was ich denn bloß gemacht hätte? Die rotnasigen Männer, die vor den Kneipen an Klapptischen hocken, sagen zu mir: »Respekt! Krücken im Sommer«. Der Betrunkene im Bus verkündet lautstark, ich sei ein Clown, mir so was bei dieser Hitze zuzulegen, einen Clownsschuh habe ich da an. Normalerweise sprechen mich diese Leute nicht an. Wahrscheinlich weil ich sonst flott an ihnen vorbeigehe, die Nase fein nach oben. Jetzt bin ich schneckenlangsam wie die, die sonst ziellos durch die Stadt schlurfen, und halte den Blick stets gesenkt, so wie viele von ihnen. Stolz weglaufen kann ich auch nicht, wenn sie mich ansprechen, daher antworte ich den Leuten, in deren Universum ich jetzt angekommen bin, artig und höflich. Bedanke mich für die vielen, vielen guten Wünsche, die ich bekomme – von Menschen, denen es offensichtlich deutlich und fundamental schlechter geht als mir.
    Flirten mag dagegen niemand mit mir. Die ganze Zeit über nicht. Ob im Café, in der Trambahn, im Restaurant, im Strandpark von Klampenborg am Öresund, am Flughafen, bei einem Klassik-Open-Air: Für die Männer scheine ich Luft zu sein. Helfen ja – aber Zulächeln ist nicht drin. Nicht in Kopenhagen, nicht in München oder Neapel. Männer, mit denen ich versuche zu flirten, schauen demonstrativ weg. Oder nehmen mich gar nicht erst wahr.
    In der Münchner Trambahn sitzt eine ältere Frau mit einem kleinen Kind. Das Kind wäre wohl alt genug, selbst zu laufen, einen Buggy haben sie trotzdem dabei. Das Kind turnt munter mit Straßenschuhen auf den Sitzen herum. Ich setze mich woanders hin. Das Kind entdeckt meinen Walker und fragt die Oma, was die Frau da hat. Die Oma dreht sich um, zeigt mit dem Finger und ausgestrecktem Arm auf mein Bein und erklärt dem Kind irgendwas. Das Kind lacht. Als könnte ich sie nicht sehen und hören. »NETT!«, sage ich schneidend. Die Frau blickt irritiert auf, das Kind macht große Augen. »Wieso?«, fragt sie. Ich zeige auf das Kind und sage: »Wie finden Sie es denn, wenn ich auf Ihr Kind zeige?« Die Frau sagt »Tschuldigung«, und dann steigen sie beide aus. Betretenes Schweigen bei den anderen Fahrgästen.
    Treffe zufällig einen alten Kollegen. Der sagt, es sei offensichtlich, dass ich mal wieder versucht hätte, mir für irgendeine Sache ein Bein auszureißen. Ich kontere, dass ich mich eher wie Rumpelstilzchen über jemanden geärgert und mich bald vor Wut zerrissen habe. Dafür habe ich jetzt einen Schuh, der sich tatsächlich aufblasen lässt. Auch von anderen. Gelächter. Diese Art Humor mag ich. Doch vom Rest bin ich erschöpft. Erschöpft vom Humpeln, von der Plage, von allem. Sechs Wochen auf Krücken und irgendwie wird es nicht besser. Ich bin nicht nur das Humpeln und die Mühsal leid, das Nicht-am-Leben-Teilnehmen, sondern auch die Aufmerksamkeit, das Starren und sogar die Hilfsbereitschaft. Ich möchte gerne wieder unauffällig und selbstständig durchs Leben gehen können und habe kaum mehr Dankbarkeit in mir. Zig mal am Tag bedanke ich mich mit einem strahlenden Lächeln fürs Türaufhalten, fürs Platzmachen in der Trambahn, fürs Kaffee-Mitbringen, fürs Aufheben von Krücken. »Warten Sie, ich helf Ihnen!« – strahlendes Lächeln. »Oh ja, vielen Dank, danke, ganz lieb, wirklich, vielen Dank!«
    Ich bin es leid. Vieles der Hilfe brauche ich gar nicht. Ich kann durch jede Tür gehen. Ja, auch durch eine schwere. Mich selbst bücken. Gerne würde ich es tun. Aber viele Menschen sind nicht nur hilfsbereit, sondern zuvorkommend, was eigentlich eine wunderbare Erkenntnis ist, aber nicht an einem Tag, an dem einem ohnehin alles zu viel ist. Auch die vielen lieben Menschen, die ich nur vom Sehen kenne, die sich aber ständig erkundigen, wie es denn ginge und wie lange es denn noch dauern würde, finde ich an einem Erschöpfungstag anstrengend. Mehrmals am Tag möchte jemand, den es in letzter Konsequenz nichts angeht, wissen, wie es mir geht. »Es geht schon« oder »Muss gehen« wird nicht akzeptiert, sondern es wird nachgefragt. Wie lange ich diesen Gehschuh schon habe. Wie lange ich diesen Gehschuh denn noch tragen muss. Natürlich wünscht man mir daraufhin weiterhin »Gute Besserung« und ich muss mich einmal mehr bedanken. An solchen Tagen ist jedes Bedankenmüssen zu viel. Es ist in eine Übung in Demut, die mir täglich schwerer fällt. Denn wo ich mich selbst um ein Maximum an Normalität bemühe, wird mir auch durch die Hilfsbereitschaft die Normalität erschwert. Ja, auch
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