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Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Titel: Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
Autoren: Stefan Nink
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hockte dort ein haushoher aufblasbarer Tiger, mit dem er prompt kollidierte. Für einen kurzen Moment gab der gestreifte Gummibauch des Tieres nach, dann beulte er sich in seine ursprüngliche Form zurück, wobei es Siebeneisen beinahe von den Füßen riss. Er lugte über den Rand seiner Brille (eine Maßnahme, die wegen seiner minus acht Dioptrien die Lage nicht wirklich entscheidend verbesserte) und verbeugte sich vor den drei Familien, die ihn fotografieren wollten. Dann ging er rasch durch das Eingangstor, das sich etwa fünf Meter neben dem Tiger befand.
    Obwohl es noch keine acht Uhr am Morgen war, schallte Siebeneisen bereits eine dissonante Version des Bayerischen Defiliermarschs entgegen. Hinter dem langsam lichter werdenden Nebel seiner Brille entdeckte er eine chinesische Blasmusikkapelle, komplett in Krachledernen und Filzhüten, angeführt von einem Mann, der sie mit einer Art Wanderstock dirigierte. Die Kapelle marschierte an fähnchenschwingenden Oktoberfestbesuchern vorbei geradewegs auf ihn zu. Siebeneisen hatte zwar noch immer Sichtprobleme, konnte aber erkennen, dass der Mann mit dem Wanderstock über das ganze Gesicht strahlte als er ihn entdeckte. Instinktiv wich er ein paar Schritte zurück und ging dann zügig nach rechts zwischen einigen Imbissbuden hindurch. Als er einen Blick über die Schulter warf, war ihm die Kapelle allerdings noch immer auf den Fersen. Sie spielte nun den Tölzer Schützenmarsch. Siebeneisen befiel leichte Panik. Er sah sich um. Gleich neben ihm befand sich der Eingang zu einer der Ausstellungshallen, die auf dem Festivalgelände aufgebaut worden waren. Siebeneisen konnte sich nicht vorstellen, was man in solchen Hallen auf einem Bierfest präsentierte, die Blasmusikkapelle würde ihm aber bestimmt nicht folgen, wenn er sich das schnell ansähe. Er öffnete die Tür zu einer Art Vorraum, zahlte drei Yuan Eintritt und bekam im Gegenzug einen roten Wintermantel ausgehändigt. Und eine Pelzmütze. Die Frau an der Kasse bedeutete ihm, den Mantel anzuziehen. Sie öffnete eine schwere Eisentür und schob ihn in die eigentliche Halle. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.
    Siebeneisen schaute in eine Welt aus Eis. Da standen Paläste und Tempel, Wachtürme, Gartenpavillons und Getreidespeicher, Pagoden, Brücken und Bauernhäuser, zusammengesetzt aus gewaltigen Eisquadern und anschließend ausgearbeitet bis ins kleinste Detail. Offenbar war den Künstlern die chinesische Welt aber nicht genug gewesen, sie hatten auch ein Colosseum aus Eis errichtet und den Berliner Reichstag und die Cheopspyramide, und weiter hinten stand tatsächlich der Eiffelturm. All das war wunderschön, bloß war es leider auch ziemlich kalt. Eiskalt, sozusagen. Das Leihmäntelchen war eher für eine chinesische Elfe geschneidert und passte vorne und hinten nicht; Siebeneisen vermutete, dass er darin aussah wie ein Gnom kurz vor einem Herzinfarkt. Die Pelzmütze hatte er an der Kasse liegen lassen, und der Eingang hinter ihm war – ja, doch: verschlossen. Siebeneisen hämmerte gegen die Tür. Er zitterte heftig. Nach seinem hektischen Spaziergang über das Gelände war er schweißnass, und hier drinnen war es kälter als in der Antarktis, und wenn er nicht bald rauskäme, würde sein durchgeschwitztes Hemd an ihm festfrieren. Er hämmerte erneut gegen die Tür. Die Tür blieb verschlossen. Siebeneisen machte sich auf die Suche nach einem Ausgang.
    Dummerweise hatten die Architekten der Eiswelt ihre Attraktion als Labyrinth angelegt. Die nächsten Minuten rutschte und schlitterte Siebeneisen zwischen Tempeln, Burgen und Palästen hin und her, schaute über Mauerzinnen auf Akropolis und Freiheitsstatue und stolperte durch eine Großfamilie maßstabsgetreuer Kaiserpinguine. Er folgte einem Hinweisschild, das er nicht lesen konnte, gelangte auf diesem Weg aber nur in einen Garten mit geschnitzten Obstbäumen aus Eis. In einem Festungsturm entdeckte er große Stapel Raketen und Böller, wohl für das geplante Feuerwerk am Abend, aber leider keine Tür zur Außenwelt. Obwohl er in Bewegung blieb, wurde ihm immer kälter, und als er sich durch die Haare fahren wollte, waren da keine Haare mehr auf seinem Kopf, sondern nur vereiste Zipfel. Siebeneisen fluchte. Er verfluchte die Erbauer der Eiswelt, er verfluchte dieses Oktoberfest, vor allem aber verfluchte er sich selbst: Wie konnte er nur so dumm sein und einfach in diese Halle hineinlaufen! Nach allem, was schon passiert war auf dieser Reise! Er stapfte
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