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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus
Autoren: Thomas Mann
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homo-Antlitz, trotz der länd {737} lich gesunden Hautfarbe, mit weh geöffnetem Munde und blicklosen Augen zu mir emporhob. Hatte er mich zuletzt in Pfeiffering nicht erkennen wollen, so war jetzt unzweifelhaft, daß er mit meiner Erscheinung, ungeachtet einiger Mahnung durch die alte Frau, keinerlei Erinnerungen mehr verband. Von dem, was ich ihm über die Bedeutung des Tages, den Sinn meines Kommens sagte, verstand er augenscheinlich nichts. Nur die Blumen schienen einen Augenblick seine Teilnahme zu erregen; dann lagen auch sie unbeachtet da.
    Noch einmal sah ich ihn 1939, nach der Besiegung Polens, ein Jahr vor seinem Tode, den seine Mutter als Achtzigjährige noch erlebte. Sie führte mich damals die Treppe hinauf nach seinem Zimmer, in das sie mit den ermunternden Worten: »Kommen Sie nur, er bemerkt Sie nicht!« hineinging, während ich voll tiefer Scheu im Türrahmen stehen blieb. Im Hintergrunde des Zimmers, auf einer Chaiselongue, deren Fußende mir zugekehrt war, so daß ich ihm ins Gesicht sehen konnte, lag unter einer leichten Wolldecke der, der einst Adrian Leverkühn gewesen war, und dessen Unsterbliches nun so heißt. Die bleichen Hände, deren sensitive Bildung ich immer geliebt hatte, lagen, wie bei einer Grabfigur des Mittelalters, auf der Brust gekreuzt. Der stärker ergraute Bart zog das verschmälerte Gesicht noch mehr in die Länge, so daß es nun auffallend dem eines Greco'schen Edlen glich. Welch ein höhnisches Spiel der Natur, so möchte man sagen, daß sie das Bild höchster Vergeistigung erzeugen mag, dort, wo der Geist entwichen ist! Tief lagen die Augen in den Höhlen, die Brauen waren buschiger geworden, und darunter hervor richtete das Phantom einen unsäglich ernsten, bis zur Drohung forschenden Blick auf mich, der mich erbeben ließ, aber schon nach einer Sekunde gleichsam in sich zusammenbrach, so, daß die Augäpfel sich nach oben kehrten, halb unter den Lidern verschwanden und haltlos dort hin und her irrten. Der wiederholten Einladung {738} der Mutter, doch nur näher zu treten, versagte ich die Folge und wandte mich in Tränen. –
    Am 25. August 1940 traf mich dahier in Freising die Nachricht von dem Erlöschen der Reste eines Lebens, das meinem eigenen Leben, in Liebe, Spannung, Schrecken und Stolz, seinen wesentlichen Inhalt gegeben hat. Am offenen Grabe auf dem kleinen Friedhof von Oberweiler standen mit mir, außer den Angehörigen, Jeanette Scheurl, Rüdiger Schildknapp, Kunigunde Rosenstiel und Meta Nackedey, dazu eine unkenntlich verschleierte Fremde, die, während die Erdschollen auf den eingebetteten Sarg fielen, wieder verschwunden war.
    Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelte dazumal auf der Höhe wüster Triumphe, im Begriffe, die Welt zu gewinnen kraft des einen Vertrages, den es zu halten gesonnen war, und den es mit seinem Blute gezeichnet hatte. Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tragen? Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.
     
    ENDE

Anhang
    {739} Editorische Nachbemerkung
    Angesichts der Überlieferungslage des
Doktor Faustus
fällt die Entscheidung für einen Leittext schwer. Der Erstdruck (ED, Stockholm 1947) beruht nicht unmittelbar auf der Handschrift, sondern im Wesentlichen auf dem ersten, vom Autor überarbeiteten Typoskript, er bietet einen umfangreicheren Text als die späteren Drucke. Die nämliche Version findet sich im zweiten Typoskript, das nach den Fahnen von ED rasch hergestellt werden musste, um das amerikanische Copyright zu sichern.
    Thomas Mann machte sich schon sehr früh Sorgen wegen der gedanklichen Überfrachtung des Romans und begann (zusammen mit Tochter Erika) runde vier Wochen nach dem Erscheinen von ED, also im November 1947, bedeutende Kürzungen des Textes vorzunehmen. Außerdem stellte er zahlreiche Satzfehler fest; es entstanden mehrere Errata-Listen. Ein erstes Ergebnis war D2, die sog. »Wiener Ausgabe«. [1] Sie erschien 1948. Allerdings schlichen sich neue Druckfehler ein, und die Errata-Listen waren nicht vollständig berücksichtigt. Trotzdem lag mit D2 erstmals der Romantext in der Form vor, die der Autor weitergegeben wissen wollte.
    Damit aber war der Vorgang des
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