Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diese eine Woche im November (German Edition)

Diese eine Woche im November (German Edition)

Titel: Diese eine Woche im November (German Edition)
Autoren: Michael Wallner
Vom Netzwerk:
zu ihrem Privatvergnügen folterten oder vergewaltigten. Während des Geheimprozesses wurde der Missetäter nach dem Prinzip Auge um Auge zur Verantwortung gezogen. Gewalt wurde mit Gewalt vergolten. Trotz ihrer Grausamkeit waren die Trucidi ein Bund, der dem Gemeinwohl diente. Sie beschützten kleine Leute vor der Willkür und den Drangsalierungen des Adels.
    Rinaldo spürt seine Finger nicht mehr, gedankenverloren hat er den Teller zu lange unter kaltes Wasser gehalten. Er trocknet die Hände ab, wirft das Geschirrtuch über die Schulter und greift zum Tablet. Der Abwasch muss warten.
    Historische Abbildungen tauchen auf dem Screen auf, alte Landkarten, Handschriften. Ein Kupferstich springt ihm ins Auge, er zeigt ein Geheimgericht der Trucidi. Der Richter, genannt der Große Meister, sitzt erhöht. Er trägt eine Robe, die an einen Kardinal erinnert. Die Arme auf den Rücken gefesselt, kniet der Angeklagte zu seiner Linken. Auf der rechten Seite sitzt der Ankläger mit verhülltem Gesicht. Dem Richtertisch gegenüber steht eine Frau in weißem Gewand. Über ihr Haupt wird ein silberner Kranz gehalten. Die Frau klagt den Adeligen der Vergewaltigung an.
    Mit jedem Klick taucht Rinaldo tiefer in die Vergangenheit ein. Die Welle der Geschichte erfasst ihn, trägt ihn davon. Jahrhundert für Jahrhundert nahm Venedigs Einfluss ab. Die Türken kamen, die Türken wurden zur größten Gefahr für Europa und das Mittelmeer. Durch sie verlor Venedig eine Provinz nach der anderen. Der Handel erlahmte. Die Franzosen lösten die Venezianer als Produzenten von Luxusgütern ab. Die reichen Leute deckten sich mit den schönen Dingen des Lebens lieber in Paris ein. Venedigs Handwerk verarmte, seine Einwohnerzahl sank. Im Jahr 1630 raubte die Pest noch einmal 46 000 Einwohnern das Leben.
    Die Venezianer suchten nach Sündenböcken für ihren unaufhaltsamen Niedergang. Da kam ihnen eine geheime Gesellschaft, die sich an Adeligen verging, gerade recht. Die Trucidi wurden gejagt und hingerichtet. Der Große Meister floh nach Frankreich, umsonst. Er und seine Familie wurden in Paris ermordet. Die verbliebenen Trucidi verleugneten ihre Zugehörigkeit. 1797, im Schicksalsjahr Venedigs, brach Napoleon in Italien ein. Wenige Wochen später dankte die venezianische Regierung ab, die glorreiche Republik hatte aufgehört zu bestehen. Die Franzosen verboten den venezianischen Firlefanz. Neben anderen Verbindungen wurden auch die Trucidi endgültig aufgelöst.
    Rinaldo spürt einen leichten Druck, dieses ganz besondere Brennen. Es ist nichts, denkt er und fasst sich an die Brust. Falscher Alarm, beruhigt er sich. Auf dem Arbeitstisch steht die Pillendose. Noch nicht, denkt er, es vergeht bestimmt.
    Er lädt das Emblem der Trucidi auf den Screen. Merkwürdig und wunderschön zugleich. Ein Kranz aus Schlangen, die sich um einen gewölbten Spiegel winden. Die Schlangenleiber sind aus Silber, ihre Köpfe wurden kunstvoll aus Edelsteinen zusammengesetzt. Zuoberst sitzt ein Diadem aus Brillanten. Rinaldo stellt den Kupferstich der Gerichtsverhandlung daneben. Kein Zweifel, es ist der gleiche Kranz, das Symbol der Wahrheit, über dem Haupt der weiß gekleideten Frau erhoben.
    Rinaldos Atem geht in kurzen Stößen. Er leckt Schweiß von der Oberlippe. Sein Hemd ist nass geschwitzt, dabei hat es hier drin selten mehr als 18 Grad. Rinaldo will sich weiter in das Geheimnis der Trucidi vertiefen. Sein Herz sagt Nein. Verdammte, unzuverlässige Pumpe. Mit fahrigen Fingern nimmt er eine Kapsel aus der Dose und legt sie unter die Zunge. Er sinkt aufs Sofa, schließt die Augen und erwartet die Wirkung.
    ***
    » Ein Nickerchen am Vormittag? «
    Der Junge steht über ihm. Er kam herein, ohne dass Rinaldo es mitgekriegt hat. War es ein Schlaf, eine Ohnmacht? Benommen richtet er sich auf. Seine Hände fühlen sich schwer an.
    » Du … kommst früh. « Seine Stimme krächzt. Er streicht das Haar zurück. Tonio soll nichts merken.
    Der Junge wirkt unbeschwert, Rinaldo entdeckt einen sanften Ausdruck auf seinem Gesicht. Das ist ungewöhnlich. Sonst legt Tonio oft die Unruhe eines geprügelten Hundes an den Tag, misstrauisch gegen jedermann, verschlossen gegenüber Menschen, die er nicht kennt.
    » Wir hatten heute kein Glück mit den Karten. « Tonio schlendert durch den Raum, als ob das Hauptquartier sein ureigenes Revier wäre. Kaum ein Mensch weiß von diesem Ort, von dem Geheimnis, das die alte Werkstatt birgt. Die Schmiede, die hier ansässig war, machte vor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher